Im Februar und März erschienen Artikel in zwei deutschen Leitmedien, die jeweils ein Schlaglicht auf einen spezifischen Aspekt des gesamtgesellschaftlichen Versagen im Kinderschutz werfen.
Fehlallokation von Aufmerksamkeit und Ressourcen – wer nicht aus dem richtigen Grund leidet, wird allein gelassen.
In „Studie zu psychischer Gewalt – Die häufigste Form der Misshandlung“ berichtet die Seite Tagesschau.de:
Laut einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Studie, an der White beteiligt war, ist emotionale Gewalt die häufigste Form der Misshandlung von Kindern und Jugendlichen. „Unsere beiden wichtigsten Erkenntnisse sind, dass emotionale Misshandlung nicht nur am öftesten vorkam in unserer Stichprobe, sondern auch die schwerwiegendsten Folgen für die psychische Gesundheit der Kinder hatte. (…) UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, geht davon aus, dass emotionale Gewalt oder Vernachlässigung die verbreitetste Form ist und jedes dritte Kind weltweit davon betroffen ist. (…) Angesichts der Studienergebnisse wünscht sich White vor allem eins: mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Das gelte einerseits für die breite Öffentlichkeit: Denn während Schläge und sexueller Missbrauch sehr oft thematisiert werden und es zahlreiche Hilfsangebote gibt, findet psychische oder emotionale Gewalt wenig öffentliche Beachtung, etwa in Medienberichten oder Beratungsstellen für Eltern.
Weil man es zu leicht überliest, nochmal herausgestellt: emotionale Gewalt kam am häufigsten vor und hatte die schwerwiegendsten Folgen für die psychische Gesundheit der Kinder.
Mit emotionaler Gewalt sind Dinge gemeint wie Demütigungen, Herabsetzungen, Erniedrigungen durch Worte, Einschüchterung, ständiges Anschreien oder Angstmachen, Drohungen, Liebesentzug, offene Verachtung, Isolierung oder emotionale Kälte.
Medial findet emotionale Gewalt gegen Kinder aber so gut wie gar nicht statt. Im Strafgesetzbuch schon gar nicht. Fast alles an Aufmerksamkeit und Ressourcen wird vom „totalen Krieg“ gegen „sexuelle Gewalt“ gegen Kinder gefressen.
In Hinblick auf die Häufigkeit wird im Artikel dieses Schaubild präsentiert, das verdeutlicht, dass viele Betroffene auch Opfer verschiedener Missbrauchs- und Misshandungsformen gleichzeitig sind:
Etwas problematisch an dem Schaubild ist, dass sexuelle und körperliche Gewalt zusammengefasst sind. Wenn man in die (auch im Tagesschau-de Artikel verlinkte Studie) schaut findet man dieses Schaubild:

Von allen Betroffenen waren also 81% Opfer von emotionaler Gewalt, 64 % von Vernachlässigung und 42.2 % von Sexueller und körperlicher Gewalt. Die Anteile zu sexueller und körperlicher Gewalt sind in der Tabelle 1 der Studie weiter aufgeschlüsselt. Sexuelle Gewalt kam danach bei 13.4 % der Fälle vor, körperliche Gewalt bei 35 %.
Die 13.4 % der Fälle erhalten fast 100% der Aufmerksamkeit. Sexueller Kindesmissbrauch wird inzwischen regelmäßig in den Medien zur Pandemie und Gesundheitskatastrophe erklärt, inklusive der gebetsmühlenartigen Behauptungen wie „immer mehr“, „immer jünger“, „immer brutaler“. Tatsächlich sind die Zahlen zu sexuellem Kindesmissbrauch aber lt. Kriminalstatistik seit Jahrzehnten im wesentlich unverändert bis leicht rückläufig.
Damit ist der erste Artikel oberflächlich gesehen ausgewertet. Die Haupterkenntnis ist, dass die 81% der Opfer von Misshandlung, die am meisten unter den Taten leiden, vergessen und allein gelassen werden. Soweit der Erkenntnishorizont der Tagesschau. Die Forderung ist: mehr Bewusstsein schaffen. Das ist natürlich zu unterstützen. Nicht wirklich erkannt ist aber, dass die 81% nicht zuletzt deshalb allein gelassen werden, weil man völlig (und in ungesunder Weise) auf die 13.4% Prozent fixiert ist.
Natürlich könnte man sich wünschen, dass zu den 100% Aufmerksamkeit für Opfer von „sexueller Gewalt“ noch 100% Prozent Aufmerksamkeit für Opfer emotionalen Missbrauchs hinzukommen könnten. Aber Aufmerksamkeit und auch Geld sind knappe Güter. Mehr als 100% gibt es nicht, bzw. lässt sich in der Realität nicht durchhalten. Wenn man möglichst viel erreichen will, muss man die Mittel, die vorhanden sind, ausgewogen und der objektiven Notwendigkeit entsprechend verteilen. Heute geschieht dies nicht.
Ein weiterer Aspekt, der im Grunde auch langsam bereits zum Thema des zweiten Artikels überleitet, ist, dass das tatsächliche Problem „sexueller Gewalt“ in Wirklichkeit kleiner ist, als die 13.4 % Opferanteil suggerieren. Laut der inzwischen durch Lobbyisten weltweit durchgesetzten Definition ist mit „sexueller Gewalt“ jede sexuelle Handlung an oder mit einem Kind gemeint. Die Meinung und das subjektive Erleben des Kindes ist dabei völlig unerheblich und interessiert den „Kinderschutz“ nicht. Dabei ist sie eigentlich entscheidend, wenn es wirklich um das Kindeswohl geht.
Eine für die Bevölkerung repräsentative (!) nationale dänische Studie hatte zum Ergebnis, dass sich bei Fällen eines sexuellen Kontakts mit einer Altersdifferenz von mehr als 5 Jahren 35 % der betroffenen Jungen „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht fühlte, 65 % fühlte sich nicht missbraucht. Bei den Mädchen fühlten sich 39.5 % „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht, 60.5 % fühlten sich nicht missbraucht. Die Ergebnisse für Dänemark dürften auf Deutschland und andere europäische Länder übertragbar sein.
Diesen Kindern muss nicht etwa dringend beigebracht werden, dass sie ganz furchtbar geschädigt wurden, ihre Seele nun eigentlich tot ist und sie realistischerweise jede Hoffnung auf ihr Lebensglück fahren lassen sollten. Tut man es doch, dann ist das nichts anderes, als eine (bisher leider kaum erkannte) Sonderform von emotionalem Kindesmissbrauch.
Um dies zu erkennen, muss man keineswegs der Meinung sein, dass es auch akzeptable sexuelle Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern geben kann, sondern einfach nur ein objektives Interesse am Wohlergehen der Kinder haben und den möglicherweise vorhandenen eigenen subjektiven Schrecken oder Ekel im Interesse der Kinder zurückstellen. Hierzu ein kurzes Zitat von Fr. Prof. Dr. Michaela Pfundmair (lehrt Sozialpsychologie an der LMU München) aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:
Als beste Schutzfaktoren bei sexuellen Übergriffen hat sich in der Forschung unter anderem herauskristallisiert, zu Kontrollüberzeugungen zu gelangen, Optimismus beizubehalten, wichtige Bindungen aufrechtzuerhalten – aber auch so etwas wie die externale Attribution der Schuld, also sich klar zu machen, dass man selbst nicht für das Geschehene verantwortlich ist. Natürlich sind auch Psychotherapien eine Möglichkeit. Vielleicht aber haben viele der Betroffenen keine „seelische Erschütterung“ erfahren. Dann sollte man das auch nicht weiter aufbauschen. (…) Tatsächlich kann Missbrauch in der Kindheit das Risiko für eine Vielzahl psychischer Störungen erhöhen – aber: die Zusammenhänge sind im Allgemeinen schwach bis mäßig ausgeprägt. Das heißt, Missbrauch ist nur ein unspezifischer Risikofaktor. Der Anteil symptomfrei bleibender Betroffener wird auf etwa 40 Prozent geschätzt.
Wer sich nicht missbraucht fühlt oder durch einen Missbrauch keine seelische Erschütterung erlebt hat, bleibt in der Regel symptomfrei. Indoktriniert man jemandem, um ihm vor Augen zu führen, wie schrecklich er geschädigt wurde, so hat das massive negative Konsequenzen für den Betroffenen. Um diese Art von Opfer-Indoktrination und ihre Konsequenzen für die dadurch Geschädigten geht es im zweiten Artikel.
Opfer-Indoktrination
Der Spiegel-Artikel „Vermeintliche Opfer ritueller Gewalt – Im Wahn der Therapeuten“ thematisiert dabei allerdings ausschließlich die Behandlung angeblicher ritueller Gewalt. Sichtbar wird deshalb im Grunde nur die Spitze eines Eisbergs: ein kleiner Teilbereich des großen Feldes (sexueller) Missbrauch, bei dem der Missbrauch mit dem Thema Missbrauch und der dadurch angerichtete Schaden besonders leicht zu erkennen ist – aber trotzdem bisher weitgehend ignoriert wurde.
Auszüge aus dem Artikel zum individuellen Schicksal einer Betroffenen:
Im Frühjahr 2018 versucht Malin Weber, ihr Leben in den Griff zu bekommen, nicht zum ersten Mal. Sie ist zu der Zeit 27 Jahre alt und will eine schwierige Trennung verarbeiten. Ihre Kindheit sei schwierig gewesen. Ohrfeigen vom jähzornigen Stiefvater. Mit elf, sagt sie, habe der Vater eines Freundes sie missbraucht. In der fünften Klasse begann sie stark zu stottern. Das Gymnasium habe sie ohne Abschluss verlassen.
Später kommt sie in therapeutischen Wohngruppen unter, in Gastfamilien, psychiatrischen Kliniken. Weber sagt, sie habe sich selbst verletzt, sei depressiv gewesen, zeitweise suizidgefährdet. Sie lebt von Hartz IV. 2015 heiratet sie, doch ihr Mann habe getrunken und sei gewalttätig geworden. Nach drei Jahren ist die Ehe am Ende.
Davon will sich Weber im Gezeiten Haus nahe Köln lösen, einer Privatklinik mit Schwerpunkt Traditionelle Chinesische Medizin. Sie leidet unter Schlafstörungen, isst wenig, wirkt abwesend. Das größte Handicap ist ihr Stottern. Unter Stress bringt sie kaum ein Wort heraus. Weber erinnert sich: »Die Therapeutin dort meinte, hinter meinen Symptomen müsse noch mehr stecken.« Mit der Verdachtsdiagnose »Dissoziative Identitätsstörung« verweist man sie an eine angebliche Traumaexpertin. (…)
Im Juni 2018 betritt Malin Weber zum ersten Mal die Praxis von Jutta Stegemann in Münster. Nach eigener Auskunft arbeitet die approbierte psychologische Psychotherapeutin seit 20 Jahren mit »Überlebenden ritueller Gewalt«. Stegemann führt auch die entsprechende Beratungsstelle beim Bistum Münster.
Barsch und autoritär habe Jutta Stegemann auf sie gewirkt, sagt Weber. Ihre traumatische Trennung sei »schnell gar kein Thema mehr« gewesen. »Es ging nur um den Satanismus.« Vor dem Familiengericht wird Weber sagen, sie hätte durch ihre Therapeutin »zum ersten Mal davon erfahren, was passiert sein soll«. Gemeint ist der angebliche satanische Missbrauch.
In der seriösen Traumatherapie geht es darum, Klienten zu stabilisieren und sie gegen Erinnerungsschübe zu wappnen. Ihre Therapeutin hingegen, so schildert es Weber, habe von ihr verlangt, wieder und wieder Bilder des vermeintlichen Missbrauchs in sich aufsteigen zu lassen, an den sie keine Erinnerung gehabt habe.
Mit bunten Steinen soll sie ihre »Innenpersönlichkeiten« aufstellen und ihnen Namen geben. Davon hat Weber noch ein Foto. Als »Erinnerung« notiert sie: ein Mädchen, das von einer Hohepriesterin zum Altar geführt wird, »ich musste folgen«, Glockenklänge, ein Messer, Blut spritzt – genau wie in einem Buch beschrieben, das sie auf Stegemanns Anweisung durchgearbeitet habe. Die Therapeutin habe das als »Durchbruch« gefeiert.
Stegemann habe ihr erklärt, sie sei in den kultischen Kreis hineingeboren worden und verfüge über Geheimwissen. Ihr schweres Stottern resultiere aus einem Redeverbot durch die Kult-Obersten, Logopädie sei sinnlos. Ohne dass sie sich dessen bewusst sei, werde sie bis in die Gegenwart gefoltert und missbraucht. Um ihre hierfür geeigneten »Persönlichkeitsanteile nach vorne zu holen«, benutzten die Täter etwa Musik aus einem Autofenster. Es könne passieren, dass sie sich dann in das Auto setze und zu Ritualen abtransportiert werde.
Um sich dagegen wehren zu können, habe Stegemann gesagt, müsse Weber alle ihre »Innenpersönlichkeiten« miteinander versöhnen. Therapiedauer: bis zu zehn Jahren.
Der SPIEGEL hat Jutta Stegemann zu einem Gespräch getroffen. Drei Stunden lang doziert sie über »Mind-Control« und »Innenpersönlichkeiten«, erwähnt dabei den Auschwitz-Arzt Josef Mengele, den belgischen Kinderschänder Marc Dutroux, den Campingplatz in Lügde. Folgt man Stegemann, stecken hinter allem satanistische Täterkreise. Sie spricht von einem Chirurgen, der Chips aus den Körpern der Opfer entferne – mit denen ihre Missbraucher sie orteten.
Fragt man die Therapeutin nach ihrer ehemaligen Klientin Malin Weber, muss man ihre Antwort so verstehen, als hätten die Täter Weber auf Stegemann angesetzt, um sie zu stoppen – weil sie zu gute Arbeit leiste.
(…)
Im Rückblick ist das ihre bitterste Erkenntnis: Wie manipulierbar sie war und wie leichtgläubig. Wie sie nach einer gescheiterten Ehe Halt bei einer Therapeutin suchte und sich stattdessen von ihr in eine paranoide Scheinrealität ziehen ließ. In einen psychischen Abgrund, ohne Hoffnung auf ein eigenständiges Leben. Erzählen kann Malin Weber das heute nur, weil sie es schaffte, sich aus eigener Kraft aus diesem therapeutischen Wahngebilde zu befreien. Diese Stärke, das ahnt sie, besitzen viele andere nicht.
Noch immer kämpft sie gegen innere Bilder an, die in ihr hochsteigen: dunkle Gestalten in Kutten, Messer, Blut – alles Scheinerinnerungen, entstanden in 83 Therapiesitzungen, bezahlt von ihrer Krankenkasse. Ohne sich dessen bewusst zu sein, so habe es ihre Therapeutin ihr suggeriert, stehe sie im Bann eines Satanskults. Ein Täterkreis, angeführt von ihrem Stiefvater, habe sie in ihrer frühen Kindheit mental programmiert, um sie ein Leben lang in Ritualen missbrauchen zu können. Quer durch die Republik spannte sich das Netzwerk von Satansjüngern, und noch immer hätten diese die Kontrolle über sie, davon war die Therapeutin überzeugt.
Um sich aus dem Kult lösen zu können, müsse Weber sich an alles erinnern, mit ihrer Hilfe.
Je länger die Therapie dauerte, sagt Malin Weber heute, desto schlechter habe sie sich gefühlt. Manchmal sei sie nach den Sitzungen in ihrer Wohnung zusammengebrochen. Zu der Zeit, sagt sie, habe sie selbst geglaubt, der Kult habe sie in seiner Gewalt.
Weber ging zu jener Zeit nicht mehr allein vor die Tür – aus Angst, sie könnte von den Tätern entführt werden. Auf Anweisung ihrer Therapeutin habe sie Kontakte zu Freunden und Familie abgebrochen. Sie schaltete ihr Handy aus, um nicht geortet zu werden. Zeitweise glaubte sie, mindestens acht Persönlichkeiten führten in ihr ein Eigenleben.
Heute weiß Malin Weber, dass sie tatsächlich schwer traumatisiert wurde – nicht durch satanistische Rituale, sondern durch die angebliche Traumatherapie.
(…)
Anfang 2020 kehrt Malin Weber aus einem Urlaub zurück, ungeplant schwanger. »Das stärkste Gefühl war Freude«, sagt sie. Aber auch Angst – vor der Reaktion ihrer Therapeutin. Als Jutta Stegemann von der Schwangerschaft erfährt, habe sie versucht, Weber weiszumachen, das Kind sei bei einer Massenvergewaltigung durch Kultanhänger entstanden. Das Ungeborene schwebe in höchster Gefahr. Mit dieser Sorge wendet sich Stegemann ans Jugendamt. Weber sagt: gegen ihren Willen.
Aus den Akten des Jugendamts Unna geht hervor, was die Therapeutin dort noch vorbringt: Ein anderes Kind Webers sei »vorgeburtlich geopfert« worden. Es sei nicht auszuschließen, dass Weber ihr Kind aufgrund der Programmierung den Tätern zum Missbrauch überlassen könne.
Das Jugendamt schaltet das Amtsgericht Unna ein. Zwei Wochen vor der Geburt des Kindes tagt das Gericht erstmals.
Der Betreuer, der Weber wegen ihres Stotterns zu Terminen bei Ämtern und Ärzten begleitet, bestätigt im Verfahren, sie sei seit Längerem »richtig stabil«. Aus den Schilderungen der Beteiligten ergibt sich: Weber nimmt alle gynäkologischen Vorsorgetermine wahr, hat sich um eine Hebamme gekümmert, geht zur Geburtsvorbereitung und – noch – zur Therapie bei Jutta Stegemann.
Weber gibt zu Protokoll, sie befinde sich seit 2010 im Ausstieg aus dem Satanskult. Sie traue sich jedoch zu, mit einer ambulanten Hilfe für ihr Kind zu sorgen. Und: Es sei ihre erste Schwangerschaft.
Weber legt dazu eine Bescheinigung ihrer Frauenärztin vor, wonach keine Spuren einer früheren Geburt feststellbar sind. Ein Widerspruch zur Behauptung Stegemanns über das geopferte Kind.
Unbeirrt trägt die Vertreterin des Jugendamts trotzdem vor, »nach Aussage von Frau Stegemann« könne man nicht wissen, wie die zahlreichen »Innenpersönlichkeiten« auf das Kind reagieren würden. Diese Sorge teilt die Richterin und entzieht Malin Weber bereits vor der Geburt vorläufig das Sorgerecht. Als ihre Tochter im September 2020 zur Welt kommt, muss Weber mit ihr in eine Mutter-Kind-Einrichtung ziehen.
Weber erinnert sich, weder die Richterin noch sonst irgendjemand habe nach Belegen für die Existenz der Satanisten gefragt. Das Protokoll bestätigt das. »Die haben das alle einfach geglaubt«, sagt Weber. (…)
Während Malin Weber noch mit ihrer Tochter in der Mutter-Kind-Einrichtung lebt, lässt Jutta Stegemann erst Termine ausfallen, dann reißt die Therapie ganz ab. Eine Rechnung weist den Termin am 8. April 2021 als letzte von 83 Sitzungen aus.
»Je weniger Therapie ich hatte, desto besser ging es mir«, sagt Weber. »Immer seltener kamen irgendwelche Bilder hoch. Irgendwann habe ich begriffen, dass alles nicht stimmte.«
Am 28. Juni 2021 entscheidet das Gericht über das Sorgerecht für ihr Kind. Laut Akten beschreibt eine Mitarbeiterin der Mutter-Kind-Einrichtung Weber als umsichtig, gut informiert, »eine ganz verliebte Mutter«. Nur einmal, als ihr die vom Gericht beauftragte Psychiaterin noch vor dem Abschluss der Begutachtung eröffnet habe, sie sehe für sie keine Zukunft mit dem Kind, habe Malin Weber den ganzen Tag lang geweint.
Die Psychiaterin führt keine eigene Diagnostik durch. Was die Dissoziative Identitätsstörung betrifft, beruft sie sich auf die »Angaben der behandelnden Therapeutin Jutta Stegemann«. Die andere Gutachterin, eine Psychologin, fasst zusammen: »An der Liebe der Mutter zum Kind wird nicht gezweifelt.« Doch Stegemann zufolge sei Weber in »bis zu mehrere tausend Innenpersönlichkeiten« gespalten, auch solche, die weiterhin Kontakt zum Kult hielten. »Gemäß Stegemann« ein »unkalkulierbares Restrisiko«.
Vor Gericht trägt die Gutachterin vor, Weber habe »eine der schwersten psychiatrischen Erkrankungen überhaupt«. Im Gutachten schreibt sie, der Persönlichkeitswechsel zeige sich nach Stegemanns Angaben unter anderem durch den »Wechsel der Augenfarbe«. Niemandem, auch nicht der Richterin, fällt auf, dass das physiologisch nicht möglich ist.
Dann kommt der Gerichtsbeschluss: Die Kindesmutter könne »hoch belastet durch den Ausstieg aus dem Kult« und »ständig auf der Hut vor potenziellen Übergriffen« ihrer Erziehungsverantwortung für das Kind nicht gerecht werden. Webers Tochter kommt in eine Pflegefamilie. (…)
Seit August 2021 läuft beim Oberlandesgericht Hamm Malin Webers Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts zum Sorgerecht. Im Mai 2022 hat sie bei der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen eine Beschwerde über ihre Therapeutin eingereicht, bislang ohne Antwort.
In der Zwischenzeit hat Weber den Führerschein gemacht. Sie strebt eine IT-Ausbildung an und geht regelmäßig zur Logopädie. Für Termine bei Ämtern und Ärzten braucht sie keine Begleitung mehr. Seit anderthalb Jahren hat sie einen festen Lebenspartner.
Das Oberlandesgericht Hamm hat eine neue Psychiaterin damit beauftragt, Malin Weber zu begutachten. Bis zur Verhandlung kann es noch Monate dauern. Bis dahin darf sie ihre Tochter nur alle drei Wochen sehen, maximal zwei Stunden, unter Aufsicht der Pflegemutter und einer Betreuerin.
Das völlig unnötige Elend, das sich in dem geschilderten Einzelschicksal manifierstiert, ist jenseits dessen, was man normalerweise für möglich halten würde. Die Behandlung von Frau Weber durch ihre Therapeutin, die ihr gegenüber eine besondere Vertrauensstellung innehatte, ist schlicht bösartig. Es ist aber wohl nicht mal ausgeschlossen, dass die Therapeutin sogar noch glaubt, was sie ihrer Patientin eingeredet hat. Sie ist wohl entweder kriminell oder eine gestörte Persönlichkeit, die nur noch bedingt zurechnungsfähig ist. Trotzdem muss sie bisher keine Konsequenzen fürchten. Sie wird weiter auf Menschen losgelassen und fügt mit Sicherheit auch anderen Patienten enormen Schaden zu.
Ein Ökosystem, das die Opfer-Indoktrination trägt
Sie wird dabei von einem Ökosystem geschützt und unterstützt. Im Artikel des Spiegel werden auch einige Personen und Organisationen benannt, die sich in besonderer Weise schuldig gemacht oder in der Auseinandersetzung mit dem Thema versagt haben. Der deutsche Staat, Wissenschaftler und Kinderschutzorganisationen wirken dabei mit, die Schädigung der Hilfesuchenden zu ermöglichen. Auszüge zum Gesamtphänomen aus dem Artikel – die Namen unrühmlich involvierter Personen und Organisationen habe ich durch Fettschrift im Text hervorgehoben:
Die Existenz von Geheimkulten, in denen im Verborgenen schwerste Verbrechen begangen werden, ist seit Jahrhunderten Stoff von Verschwörungserzählungen – im Mittelalter mit antisemitischen Zügen: Juden, hieß es, würden das Blut von Christenkindern trinken. Heute geht es, wie in Webers Fall, eher um Satansanhänger, die angeblich in schwarzen Messen ihre Opfer foltern, deren Blut trinken und sie manipulieren.
In dem auch auf Deutsch erschienenen Fachbuch einer kanadischen Psychologin mit dem Titel »Jenseits des Vorstellbaren« beschreiben Betroffene detailliert regelmäßige Menschenopfer an satanischen Feiertagen. Ein angebliches ehemaliges Mitglied bezeugt, im Kult vergewaltige ein »Mann im Teufelsgewand« Kinder im Alter zwischen 12 und 18 Monaten. Mädchen würden erstmals im Alter zwischen 11 und 13 Jahren geschwängert, ihr »erstgeborener männlicher Säugling« werde »in seinen ersten Lebenswochen nach Opfermanier getötet«. Es gibt keinen Beleg für derartige Verbrechen.
Über die angeblichen Täterkreise heißt es in einer Broschüre des Fachkreises »Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen« beim Bundesfamilienministerium aus dem Jahr 2018, mancherorts seien »Familien generationsübergreifend eingebunden«. Oft wird auch darauf hingewiesen, dass die Täterinnen und Täter eine gehobene Stellung in der Gesellschaft hätten: Beamte, Lehrer, Richter, Politiker.
In den Medien finden vermeintliche Betroffene Gehör: 2020 spricht eine Frau in einem Video von »Ze.tt«, dem Onlinemagazin der »Zeit«, über Ekeltraining durch Kultanhänger und Kindstötungen, im Jahr darauf brachte der Westdeutsche Rundfunk eine Radiosendung über »Kinder, die in Sekten ausgebeutet werden«. Zuletzt erschien in der »taz« eine Reportage über rituelle Gewalt. Überprüfbare Angaben, die auf kultische Netzwerke schließen lassen, fehlen in allen Beiträgen.
Kein Grund zu zweifeln bei denjenigen, die solche Erzählungen weitertragen: Das zeige nur, dass die Vertuschung rituellen Missbrauchs auch von Ärzten, Ermittlern und der Justiz betrieben werde. Und der Rest der Gesellschaft verschließe die Augen vor ritueller Gewalt – zu schrecklich sei die Vorstellung solcher Exzesse.
Kann das sein?
Wohl nie verfolgte die Gesellschaft so entschlossen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs wie heute. Fortlaufend decken Ermittler erschütternde Fälle organisierter sexueller Gewalt auf, in denen Täterinnen und Täter strategisch vorgehen, Kinder für den Missbrauch weiterreichen. Staufen, Lügde, Münster, Wermelskirchen – Medien berichten detailreich über solche Tatkomplexe. Es gibt Zeugen, Spuren, Aufnahmen, manchmal auch Geständnisse.
Was es in diesen Fällen nicht gibt: Hinweise auf kultische Hintergründe.
(…) In den Niederlanden liegt seit Ende 2022 der Abschlussbericht einer Untersuchungskommission zum Thema »Rituelle Gewalt« vor. Ergebnis: Trotz etlicher Opferberichte gebe es im Land keinen Nachweis für die Existenz satanistischen Missbrauchs. (…)
Folgt man Experten wie Bianca Liebrand von der Beratungsstelle Sekten-Info Nordrhein-Westfalen in Essen, liegt der Skandal beim Thema ritueller Missbrauch nicht im kollektiven Wegsehen, sondern in fehlgeleiteten Hilfsangeboten. Jedes Jahr, so Liebrand, meldeten sich bei der Sekten-Info etwa 20 Menschen, die in einer Therapie erstmals erfahren haben wollen, Opfer ritueller Gewalt geworden zu sein. »Nach der Therapie sind sie noch destabilisierter als zuvor«, sagt Liebrand. »Wüsste man von einem Arzt, dass er mit falschen Operationsmethoden Menschen gefährdet, gäbe es einen Aufschrei.«
Und es gibt weitere Opfer: die zu Unrecht Beschuldigten. Hilfe finden sie beim Verein False Memory Deutschland, übersetzt: »Falsche Erinnerung«. Gründerin Heide-Marie Cammans berät jene, die von einem erwachsenen Familienmitglied aus dem Nichts des kultischen Missbrauchs beschuldigt wurden – oft, nachdem sie aus anderen Gründen therapeutische Hilfe suchten. »Was in solchen Therapien geschieht, bringt unendliches Leid über die Familien«, sagt Cammans, die auch Malin Weber unterstützt.
Mehr als 600 Fälle, in denen induzierte Erinnerungen eine Rolle spielen, kenne sie mittlerweile, sagt Cammans. Sehr selten stecke eine psychische Krankheit oder Autosuggestion hinter der falschen Erinnerung. Meist sei sie durch eine Therapie erzeugt.
Arbeit mit »Überlebenden« sogenannter ritueller Gewalt beschäftigt eine Szene von Therapeuten, darunter Heilpraktiker und Familienaufsteller. Sie behandeln vermeintliche Folgen schwerster Leidenserfahrungen – die es so nach allem Ermessen nie gegeben hat – oft so lange, bis die Klienten selbst überzeugt sind, extreme körperliche und sexuelle Gewalt in einem Kult erlebt zu haben. Dabei handelt es sich nicht um einen durchweg dubiosen Zirkel.
Involviert sind renommierte Vertreter ihres Fachs, allen voran die Traumatherapeutin Michaela Huber. Sie tritt schon seit mehr als 20 Jahren als Kennerin okkulter Sektengewalt auf – und hat in dieser Rolle vermutlich Hunderte Therapeuten geschult.
Ihr vermeintliches Insiderwissen verbreiten diese Fachkräfte in Opferschutzvereinen, Universitätskliniken, Bistümern. Beratungsstellen wurden geschaffen, Bücher veröffentlicht, Fortbildungen und Fachtagungen veranstaltet. Auch das Bistum Münster befeuert – trotz massiver Kritik aus anderen Bistümern und aus der evangelischen Kirche – Legenden um den rituellen Missbrauch. Etwa mit dem Aufklärungsvideo »Im Namen des Teufels: Rituelle Gewalt in satanistischen Sekten« aus dem Jahr 2016.
Um auf höchster Ebene für das Thema zu sensibilisieren, sprachen 2017 Expertinnen für rituelle Gewalt vor der »Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs« über das Leid der Betroffenen – mit Erfolg. Der damalige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung richtete ein Hilfetelefon für Opfer ritueller Gewalt ein, Forschungsgelder flossen.
Eine Vielzahl selbst ernannter Experten profitiert so von der Erzählung des satanischen Missbrauchs. Betroffene finden Anerkennung, indem sie Aussteigerinterviews geben oder Selbsthilfe-Netzwerke organisieren. Therapeuten können Patienten, die mit realem Leidensdruck in ihre Praxen kommen, zumindest einen scheinbaren Grund für deren Probleme liefern. Manche Helfer verlieren dabei offenbar die professionelle Distanz und halten alles für wahr, was sie hören. Manche überhöhen ihre eigene Rolle – sie behandeln nicht nur die schlimmsten Fälle, sie kennen auch geheimste Praktiken.
Dabei ist vieles, was in der Szene als Tatsache verbreitet wird, offensichtlicher Unsinn. Fragt man nach bei Polizei und Staatsanwaltschaften, kann sich niemand an die Aufdeckung kultischer Täternetzwerke erinnern. Manche Betroffene bezichtigen ihre ganze Familie des satanistischen Missbrauchs. Doch auch Vertreter der Szene können keinen Fall nennen, in dem das nachweislich geschah. Geht es um Verbrechen kultischer Täterkreise, fehlten in den Gewaltschilderungen angeblich Betroffener stets nachprüfbare Indizien wie Angaben zu Tatorten, Namen, Verletzungsmustern.
Die Bremer Kriminologin Petra Hasselmann ist dem Phänomen nachgegangen. Dafür sprach sie mit zahlreichen Menschen, die sich als »Überlebende« ritueller Gewalt bezeichnen. Diese setzten sich nicht mit der Frage nach der Glaubhaftigkeit ihrer Erzählungen auseinander, so Hasselmanns Resümee, sondern machten rituelle Gewalt zur »Glaubensfrage«, an der sich Freund und Feind scheiden. Wer Betroffenen nicht glaube, stehe aus Sicht der Szene auf der Täterseite.
Doch wer blind glaubt, unterstützt, dass Hilfesuchende wie Malin Weber auf andere Art zu Opfern werden. (…)
An einem Tag im Oktober hat das Trauma Institut Mainz zu einer Tagung geladen: »Dissoziative Identitätsstörung – Diagnose und Therapie«. Gekommen sind drei Mitarbeiter des Opferhilfevereins Weißer Ring und sieben Psychotherapeuten. Die Psychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz erkennt das Seminar als Fortbildung an.
Brigitte Bosse leitet das Institut, sie arbeitet seit 30 Jahren mit Opfern sexueller Gewalt. Die ärztliche Psychotherapeutin sitzt in einem Gremium der Deutschen Bischofskonferenz, ist gefragte Gesprächspartnerin an Universitäten und in Ministerien, die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung hörte sie als Expertin.
An diesem Oktobertag kommt sie kurz vor der Mittagspause auf die »Dissoziative Identitätsstörung infolge ritualisierter Gewalt« zu sprechen. Die Seminarteilnehmer lernen, es sei Tätern möglich, die Persönlichkeit eines Opfers bewusst in »Innenmenschen« aufzuspalten, die jeweils verschiedene Aufgaben hätten – etwa »Verfolger«, »Beschützer« oder »innere Berichterstatter«, die den Tätern melden, wenn das Opfer beabsichtige, zur Polizei gehen.
Bosse bittet eine Frau nach vorn. Sie stellt sich als Betroffene ritueller Gewalt vor. Sie erzählt unter anderem, sie erinnere sich, wie sie als Säugling, gerade drei Monate alt, den erigierten Penis ihres Vaters gehalten habe. Dabei schließen Gedächtnisforscher ein so frühes Erinnerungsvermögen übereinstimmend aus. Auch die angeblichen Psychotechniken der Kulte sind für Fachleute nicht nachvollziehbar.
In der Szene verweist man hingegen auf das Werk der kanadischen Psychologin Alison Miller. In ihrem Buch »Jenseits des Vorstellbaren« beschreibt sie, ein Säugling lasse sich programmieren, etwa indem man ihm Nadeln in die Fußsohlen steche und Elektroden in Körperöffnungen einführe. Nach leichten Schocks, so Miller, heule das Kind auf. Danach blieben »zwischen fünfzehn Sekunden und einer Minute«, in der eine Trainerin »der neuen kindlichen Innenperson einen Namen und ein magisches Symbol zuweisen kann«.
Das Deutsche Ärzteblatt, die offizielle Fachzeitschrift der Bundesärztekammer, lobte im Jahr 2014 das »eindrückliche und sehr kenntnisreiche Buch«.
Auch in Mainz werden Millers Bücher empfohlen. Kein Teilnehmer hinterfragt offen die Behauptung, in Deutschland könnten Satanisten unbehelligt morden. Oder wie es sein könne, dass Täterkreise aus ansonsten unauffälligen Anwälten, Ärzten und Politikern über Gehirnwäsche-Techniken verfügten, die Geheimdienste seit Jahrzehnten zu erlangen versuchen.
Auf Nachfragen schwächt Bosse nach dem Seminar per E-Mail ihre Aussagen ab, schickt überarbeitete Folien, um ein »missverständliches Bild« zu vermeiden. Begriffe wie »Programmierung« hat sie gelöscht. (…)
Auch in Deutschland haben sich Wissenschaftler mit der Verschwörungserzählung befasst, jedoch auf andere Weise. Am renommierten Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf entstanden in einer Forschungsgruppe um den Sexualwissenschaftler und forensischen Psychiater Peer Briken mehrere Arbeiten zum Thema organisierte und rituelle Gewalt: über Täter, Psychotechniken, Hindernisse bei der Aufdeckung der Taten.
Die Ergebnisse entsprechen wenig überraschend dem, was in der Szene als Tatsachenwissen verbreitet wird: Zu Wort kommen Personen, die sich selbst als Betroffene definieren, und Therapeuten und Sozialarbeiter, die mit »Überlebenden« arbeiten. Was diese angeben, wird an keiner Stelle hinterfragt.
Briken sagt, Anstoß zu den Untersuchungen hätten Berichte Betroffener vor der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gegeben. Briken war selbst Mitglied der Kommission. »Wir haben gesehen, dass bei den Betroffenen großes Leid vorhanden ist. Wir haben von Menschen gehört, die nicht mehr arbeitsfähig sind, die sich suizidieren im Zusammenhang mit organisierter Gewalt. Darüber haben wir bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse.«
Im Bericht der Schweizer Kommission heißt es, wer den Aussagen angeblicher Opfer ungeprüft Glauben schenke, leiste schädlichen Therapien Vorschub und lasse Betroffenen keine Chance, ihrer Parallelwelt zu entkommen. Deshalb fordern die Autoren »Realitätschecks« ein.
Fragt man Peer Briken danach, sagt er: »Das war bei dieser Untersuchung nicht unser Anliegen und wäre mit dem methodischen Vorgehen auch unmöglich gewesen.« Man habe an keiner Stelle behauptet, Fakten zu präsentieren. Er selbst habe keine wissenschaftliche Evidenz für Techniken wie Mind-Control oder die gezielte Aufspaltung der Persönlichkeit. Und wenn die Ergebnisse seiner Forschungsgruppe dennoch als Beleg für die Existenz ritueller Gewalt gelesen werden? »Dass Forschungsergebnisse missbraucht werden, lässt sich leider nicht verhindern.« (…)
In Deutschland sind Familien- und Justizministerium stolz, das Missbrauchsthema an höchster Stelle angesiedelt zu haben, in Gestalt des Amts des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Hier sollen die Versäumnisse der Vergangenheit kompetent und integer aufgearbeitet werden.
Seit April 2022 ist die Journalistin Kerstin Claus die neue Missbrauchsbeauftragte des Bundes. Im Dezember sitzt sie in einem Konferenzraum in Berlin und sagt: Weil den Opfern sexueller Gewalt so lange und so häufig nicht geglaubt worden sei, nehme das Amt des Missbrauchsbeauftragten die gegenteilige Haltung ein – »Parteilichkeit für die Anliegen von Betroffenen«. Claus sagt: »Wir setzen uns für Schutz und Hilfe ein.«
Claus sagt, sie habe die Medienberichte in der Schweiz verfolgt. »Mit Sorge« schaue sie »auf die in konkreten Fällen festgestellten Behandlungsfehler«.
Doch auch auf dem offiziellen Hilfeportal der Missbrauchsbeauftragten war bis vor Kurzem von einer Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit »in mehrere Identitäten« durch »planmäßig wiederholte Anwendung schwerer Gewalt« und von »Mind-Control-Methoden« zu lesen. Gefördert vom Bundesfamilienministerium ging im November 2022 die Website wissen-schafft-hilfe.org online. Untermauert von Forschungsergebnissen aus Hamburg war dort von »Programmierung« und von »Teil-Persönlichkeiten« die Rede, denen »bestimmte Sexual- oder Gewaltpraktiken antrainiert werden« könnten. Auch in Broschüren, die sich an Opfer ritueller Gewalt richten und vom Amt der Missbrauchsbeauftragten gefördert wurden, wird die Mind-Control-Theorie verbreitet.
Fragt man Claus, ob sie all das glaube, windet sie sich: »Einen Begriff wie Mind-Control würde ich nicht nutzen«, sagt sie. Aber sie halte es für unangemessen, »Erfahrungen von Betroffenen undifferenziert als Verschwörungstheorie einzuordnen«. Schließlich berichteten diese von gezielter psychischer Manipulation.
Der SPIEGEL hat einen der Autoren des Schweizer Untersuchungsberichts um eine Bewertung der Aussagen zu ritueller Gewalt gebeten, die auf Internetseiten der Missbrauchsbeauftragten auffindbar waren oder noch sind. Werner Strik, ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern, sagt, Informationen, die unter dem Dach der UBSKM vermittelt würden, erweckten unweigerlich den Anschein besonderer Seriosität. Doch was dort etwa über »Mind-Control« zu lesen sei, entbehre »jeglicher wissenschaftlicher Grundlage«.
Im Dezember in Berlin sagt Claus: »Der Ansatz meines Amtes ist nicht, grundsätzlich infrage zu stellen, sondern Bedarfe zu hören und sich für passende Angebote einzusetzen.« Wenige Tage nach ihrem Gespräch mit dem SPIEGEL ist der Begriff »Mind-Control« auf dem Hilfeportal nicht mehr zu finden. Auf der Webseite wissen-schafft-hilfe.org heißt es, diese sei zurzeit im Wartungsmodus. Ein UBSKM-Sprecher nennt als Grund einen »Serverwechsel«.
Die Erkenntnis des Spiegel-Artikels begrenzt sich auf das Thema ritueller Missbrauch. Aber das Grundproblem von Strukturen, die für hilfesuchende Patienten und unschuldig Beschuldigte schädlich sind, gibt es nicht nur bei rituellem Missbrauch, sondern auch bei sexuellem Missbrauch von Kindern.
Das analoge Problem im Bereich sexueller Missbrauch von Kindern
Sexueller Missbrauch gilt als so zerstörerisch, dass es für jedes Problem und jedes persönliche Versagen, jeden ausgebliebenen Erfolg, mit dem man hadert, mit einem Schlag eine vermeintlich überzeugende Erklärung gibt, die von persönlicher Verantwortung entlastet, Aufmerksamkeit und soziale Unterstützung sichert, einen verbesserten Zugang zu Behandlungsresourcen verspricht und zu Schadensersatz-, Anerkennungs- oder Ausgleichszahlungen führen kann.
Tatsächlich bleiben 40% der Betroffenen symptomlos. Sexuelle Handlungen sind für Kinder nicht per se giftig und auch tatsächliche sexuelle Übergriffe und Missbrauchstaten töten noch lange keine Kinderseelen ab.
Die Rede von „Seelenmord“ ist für Betroffene von sexuellem Missbrauch ebenso schädlich wie die Terminologie „Überlebende“, ein Begriff der ursprünglich für Überlebende von Konzentrationslagern reserviert war, von denen tatsächlich nur einige wenige einzelne je hundert oder tausend überlebt haben. Der Normalfall einer Internierung im Konzentrationslager war, dass man danach tot war. Der Normalfall, wenn man einen sexuellen Missbrauch erlitten hat, ist, dass man danach noch am Leben ist. Wenn es sich als einer der besten Schutzfaktoren bei sexuellen Übergriffen herauskristallisiert hat, zu Kontrollüberzeugungen zu gelangen und Optimismus beizubehalten, ist die Selbstkonzeption als „Überlebender“ kaum sinnvoll.
Wesentlich für eine Schädigung durch gleich welche Misshandlungsform ist der Schweregrad, die Intensität und die Dauerhaftigkeit der Belastung. Wer ständig angeschrien, schikaniert und herabgesetzt wird, hat dadurch eine furchtbare Belastung, die in der Regel auch nachwirkt. Wer ständig verprügelt wird ebenso. Wer ständig missbraucht wird auch. Wer als Kind irgendwann einmal angeschrien wurde oder irgendwann einmal eine Ohrfeige eingefangen hat, weil die Eltern die Nerven verloren haben, hat allein deshalb noch lange kein Trauma oder Behandlungsbedarf. Ebenso wenig ist das der Fall, wenn man als Kind irgendwann einmal aus sexuellen Motiven am Penis berührt wurde.
Wenn etwas aus eigener Perspektive im Grunde eher Unbedeutendes von Dritten auf monströse Dimensionen aufgeblasen wird und im Kopf des Betroffenen nachträglich diese monströse Dimensionen annimmt, ist das für den Betroffenen weit schädlicher als die ursprüngliche Handlung.
Wenn jemand wegen psychischer Probleme Hilfe sucht und der Therapeut mit der Ursachenforschung sofort aufhört, wenn irgend etwas Sexuelles in der kindlichen Vergangenheit entdeckt wird, dann ist die wahrscheinliche Folge eine Fehlbehandlung mit ausbleibendem Therapieerfolg, vielleicht aber sogar eine unbeabsichtigte Schädigung des Patienten indem ein zusätzliches Trauma erzeugt wird, das vorher schlicht nicht vorhanden war.
Neben „normal guten“ Therapeuten, die sich durch den Zeitgeist zum Schaden ihres Patienten auf eine falsche Fährte führen lassen, gibt es aber auch „Spezialisten“, die sehr an die Therapeuten von „rituellem Missbrauch“ erinnern.
Etwas abgewandelt:
Eine Vielzahl selbst ernannter Experten profitiert so von der Erzählung des Missbrauchs. Betroffene finden Anerkennung, indem sie Selbsthilfe-Netzwerke organisieren. Therapeuten können Patienten, die mit realem Leidensdruck in ihre Praxen kommen, zumindest einen scheinbaren Grund für deren Probleme liefern. Manche Helfer verlieren dabei offenbar die professionelle Distanz und halten alles für wahr, was sie hören. Manche überhöhen ihre eigene Rolle – sie behandeln nicht nur die schlimmsten Fälle, sie kennen auch geheimste Praktiken.
Wenn eine Therapie dazu führt, dass es dem Patienten schlechter geht statt besser, ist das ein klares Warnsignal. Vielen Patienten ergeht es so. Sie werden dann damit beruhigt, dass er normal sei, dass es ihnen „vorübergehend“ erst mal schlechter gehe.
Wenn man jemandem erst mühselig beibringen muss (wie es bei 65% der betroffenen dänischen Jungen aus Sicht mancher „Kinderschützer“ wohl nötig wäre), dass er geschädigt wurde, ist das aus meiner Sicht eine offensichtliche Fehlbehandlung.
In „Was aussieht wie Liebe, ist wahrscheinlich Liebe“ zitiere ich den Psychologen Martin Janning aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:
Eine Besonderheit gibt es noch, wenn es um pädophile Täterstrukturen geht: Die sexuelle Gewalt ist dort eingebunden in ein Fürsorgeverhalten. Da geht es oft um Kinder, die vorher schon einen großen Mangel an elterlicher Zuwendung erlebt haben. Dann kommt zum Beispiel ein Stiefvater und gibt dem Kind, was es eigentlich braucht: Liebe, Zuwendung und Zeit. Danach hat der Täter leichtes Spiel, das Kind zu manipulieren und seine Wahrnehmung zu beeinflussen. Er zeigt ihm einen Film mit einem Kind, das einen Mann befriedigt, und sagt ihm, das dürfe es auch mal machen, das sei aber ein Geheimnis. Das Kind ist völlig verwirrt, zweifelt an der eigenen Wahrnehmung. Es wird immer weiter desensibilisiert. Und schließlich geht die Initiative sogar vom Kind aus, um den Wünschen und Erwartungen des Täters zu entsprechen. Das verstärkt am Ende die Schuldgefühle des Kindes.
Die Behandlung sieht so aus:
Wir helfen dem Kind, eine Sprache zu finden, wie schrecklich es ist. (…) Damit sich ein Kind nicht mehr im Spiegel des Täters oder der Täterin definiert, benötigt es äußere und innere Distanz. Dafür braucht es Bedingungen, sich aus pathologischen Abhängigkeitsbeziehungen zu befreien.
Die Erwartung, dass das Kind einen sexuellen Kontakt furchtbar oder traumatisierend findet, ist aber eine Erwachsenen-Erwartung, die in das Kind hineingelegt wird.
Die klinischen Psychologen S. Burkhardt & A. Rotatori schreiben im Buch „Treatment and Prevention of Childhood Sexual Abuse: A Child-Generated Model“ hierzu:
Aufgrund der moralisch verwerflichen Natur des sexuellen Kindesmissbrauchs haben die Forscher die verständliche Tendenz, die Ängste, Ekel und Schrecken in das kindliche Opfer zu projizieren. (…) In dieser Erwachsenenposition wird die Sicht des Kindes kaum wahrgenommen.
Das Trauma entsteht, wenn dem Kind beigebracht wird, dass es – insbesondere sein Vertrauen – missbraucht wurde. Es wird zum Spiegel der Ängste, des Ekels und Schreckens des Erwachsenen, der ihn behandelt.
Selektive Blindheit
Der ehemalige FBI-Beamte Kenneth V. Lanning ist forensischer Kriminologie mit Spezialschwerpunkt Kindesmissbrauch. Zitat aus der von ihm verfassten, 2010 erschienenen fünften Edition von „Child Molesters: A Behavioral Analysis – For Professionals Investigating the Sexual Exploitation of Children“:
Diese Täter verführen Kinder auf die gleiche Weise wie Erwachsene einander verführen. Diese Technik ist kein großes Geheimnis. Zwischen zwei Erwachsenen oder zwei Teenagern wird sie gewöhnlich als Dating bezeichnet. Früher nannte man es Hofieren. Der Hauptunterschied liegt jedoch in der Diskrepanz zwischen der erwachsenen Autorität des Kindermissbrauchers und der Verletzlichkeit des kindlichen Opfers. (…) Da die Opfer von Beziehungsmissbrauch in der Regel behutsam verführt wurden und sich oft nicht bewusst sind, dass sie Opfer sind, kehren sie wiederholt und freiwillig zum Täter zurück. (..) Manche Opfer sind einfach bereit, Sex gegen Aufmerksamkeit, Zuneigung und Geschenke einzutauschen und glauben nicht, dass sie Opfer sind. Der Sex selbst kann sogar genossen werden. Der Täter behandelt sie vielleicht besser, als sie sonst jemals von jemandem behandelt wurden.
Dass es sich stets nur um Missbrauch handeln kann, ist in solchen Fällen eine dogmatische, ideologische Entscheidung aus „prinzipiellen“ Gründen, die mit den subjektiven und objektiven Interessen der Kinder nichts zu tun haben. Man sieht nicht, was man nicht sehen will.
Gerade weil ich aus prinzipiellen Gründen genital-sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern als Herrschaftsverhältnis ablehne, habe ich Schwierigkeiten, Erfahrungen einzuordnen, die für das Gegenteil einer Herrschaftssbeziehung zu stehen scheinen.
Günter Amendt, Nur die Sau rauslassen?
in: konkret. Sexualität, H. 2 (1980), S. 23–30, hier S. 23.
Man darf selbstverständlich parteilich für die Anliegen von Betroffenen sein. Es darf einen aber nicht blind machen. Vor allem muss man die Deutungshoheit bei den Betroffenen belassen und sollte ihnen nichts von außen aufstülpen.
Zum Schluss komme ich wieder zurück zu den Opfern emotionaler Gewalt und anderer Gewaltformen. Diese profitieren besonders von Personen, die ihnen einen Ausgleich bieten können. Jemand, der zugewandt ist und sich kümmert ist ein wichtiger prognostischer Faktor, der etwas darüber aussagt, ob sich ein Kind gut entwickelt oder schwierig wird:
„One caring person“. Das ist eine Person, idealerweise eine erwachsene, bei der das Kind das Gefühl hat, dieser Mensch interessiert sich für mich, diesem Menschen bin ich wirklich ein Anliegen. Das kann ein Elternteil sein oder ein Großelternteil, das kann jemand in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft sein, eine Tante oder ein Onkel. Es ist dabei überhaupt nicht wichtig, ob das ein Mann oder eine Frau ist.
Liebe, Zuwendung und Zeit, Fürsorgeverhalten, Sex, der genossen wird, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Geschenke. Das hört sich für mich nach etwas an, von dem man profitieren kann.
Ist die Prognose eines Kindes, das mit Belastungsfaktoren wie emotionaler Misshandlung, Vernachlässigung und/oder körperlichen Gewalterfahrungen zu kämpfen hat und zusätzlich „sexuelle Gewalt“ im Sinne von Fürsorgeverhalten, Liebe, Zuwendung, gutem Sex, Aufmerksamkeit und Zuneigung erfährt, besser oder schlechter als die eines Kindes, das nur emotionale Misshandlung, Vernachlässigung und/oder körperlichen Gewalterfahrungen erlebt?
Ist die „Sexuelle Gewalt“ in diesem Sinne wirklich eine Belastung oder ist die Beziehung zu einem zugewandten Menschen, mit dem man zugleich auch positive sexuelle Erlebnisse hat, etwas, das einem gut tut, das einen stärker macht und das externe Belastungssituation bewältigen hilft?
Es gibt inzwischen viele Studien zu belastenden Kindheitserfahrungen (ACE Studies – Adverse Childhood Experiences) in denen die späteren Folgen von Erfahrungen wie körperlicher Misshandlung, sexueller Missbrauch, emotionale Misshandlung, körperliche Vernachlässigung, emotionale Vernachlässigung, Kontakt mit häuslicher Gewalt, Suchtmittelmissbrauch im Haushalt, psychische Erkrankungen im Haushalt, Trennung oder Scheidung der Eltern, inhaftierte Haushaltsmitglieder usw. als Belastungsfaktoren von Kindern untersucht werden. Wie auch im Fall der Studie, die im Artikel von Tagesschau.de vorgestellt wurde, wirkt sich in der Regel emotionaler Missbrauch am negativsten aus. Sexueller Missbrauch liegt im Mittelfeld der Belastungsfaktoren.
In der Schublade „Sexueller Missbrauch“ liegen dabei aber stets alle sexuellen Kontakte, egal ob gewollt oder ungewollt, vom Kind als Missbrauch empfunden oder nicht. Würde man hier differenzieren und zwischen willentlich gewollten und ungewollten Kontakten unterscheiden, dann wäre zu erwarten, dass die Fälle mit ungewolltem Kontakt auf der Schädlichkeitsskala der Belastungsfaktoren relativ gesehen nach oben rutschen. Bei gewollten, also nicht als Missbrauch empfundenen Kontakten wäre das Gegenteil zu erwarten. Ich halte es sogar für durchaus möglich, dass sich herausstellen könnte, dass es sich tatsächlich gar nicht um belastende Kindheitserfahrungen handelt, sondern um stärkende (PACE – Positive Childhood Experience).
Der Wille, Studien so zu gestalten, dass sie diese Fragen klären können, fehlt. Man will es anscheinend lieber gar nicht so genau wissen. Das Kindeswohl ist nicht mehr ganz so wichtig, wenn es sich falsch anfühlt, eine bestimmte Fragestellung zu untersuchen. Womit wir wieder beim systematischen Versagen wären.