Die Wahrnehmung sexuellen Missbrauchs durch Betroffene

Helmer Bøving Larsen ist ein (inzwischen emeritierter) Professor an der Fakultät für Psychologie der Universität Kopenhagen. Sein Forschungsschwerpunkt ist Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung. Seit 2003 organisiert er alle 2 Jahre eine internationale Konferenz zum Thema Kindesmissbrauch im Tagungsort Hindsgavl.

Karin Helweg-Larsen ist (inzwischen emeritierte) Professorin für Sozialmedizin, ebenfalls an der Universität Kopenhagen. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich der quanititativen Sozialforschung.

Die beiden haben im Jahr 2007 gemeinsam eine Studie veröffentlicht: „The prevalence of unwanted and unlawful sexual experiences reported by Danish adolescents: Results from a national youth survey in 2002” (= Die Prävalenz unerwünschter und ungesetzlicher sexueller Erfahrungen, die von dänischen Jugendlichen gemeldet werden: Ergebnisse einer nationalen Jugendstudie aus dem Jahr 2002).

Hier die offizielle Kurzdarstellung mit Ergebnissen und Schlussfolgerungen der Autoren:

Ziel: Beschaffung aktueller Daten über sexuellen Kindesmissbrauch in Dänemark und Bewertung der eigenen Wahrnehmung missbrauchter Kinder über frühe sexuelle Erfahrungen, die nach dem dänischen Strafgesetzbuch ungesetzlich sind. Methoden: Multimediale, computergestützte, selbstverwaltete Fragebögen (CASI) wurden von einer nationalen, repräsentativen Stichprobe von 15- bis 16-Jährigen ausgefüllt. Sexueller Kindesmissbrauch wurde gemäß dem Strafgesetzbuch definiert und anhand von Fragen gemessen, die spezifische sexuelle Aktivitäten, die Beziehung zwischen der älteren Person und dem Kind sowie die eigene Wahrnehmung des Vorfalls durch die Jugendlichen definieren. Die Ergebnisse: Von 5829 Befragten berichteten 11% über ungesetzliche sexuelle Erfahrungen, 7% der Jungen und 16% der Mädchen. Nur 1% der Jungen und 4% der Mädchen hatten das Gefühl, „definitiv“ oder „vielleicht“ sexuell missbraucht worden zu sein.

Schlussfolgerung: Ein relativ hoher Prozentsatz dänischer Jugendlicher hat frühe, ungesetzliche sexuelle Erfahrungen gemacht. Die eigene Wahrnehmung von sexuellem Missbrauch unterscheidet sich jedoch tendenziell von der der Behörden, bzw. die Toleranz der Jugendlichen gegenüber missbräuchlichen Vorfällen ist hoch. Geschlechtsspezifische Unterschiede wurden bei den Faktoren gefunden, die die Wahrnehmung des Missbrauchs vorhersagen.

Eigene Übersetzung aus dem englischen Originaltext.

Die Studie liegt mir inzwischen vollständig vor (siehe redaktioneller Hinweis am Ende dieses Artikels). Es wurde nach sexuellen Erfahrungen mit „viel älteren“ Personen gefragt, die stattfanden, bevor der Betroffene 15 Jahre alt wurde (das dänische „Schultzalter“ liegt bei 15 Jahren). Eine exakte (Mindest-)Altersdifferenz war nicht vorgegeben, es wurde aber abgefragt, ob die Altersdifferenz mehr oder weniger als 5 Jahre betrug.

Die Zahl von 1% der Jungen, die das Gefühl hatten „definitiv“ oder „vielleicht“ sexuell missbraucht worden zu sein, bezieht sich auf die Gesamtheit aller Jungen, die an der Studie teilgenommen haben. Von 100 befragten Jungen hatten 93 keine juristisch als Missbrauch gewerteten Sexualkontakte. Von den 7 Jungen, die einen nach dem dänischen Strafgesetzbuch als Missbrauch gewerteten Sexualkontakt hatten, fühlte sich einer (15%) „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht. Die anderen sechs (85 %) fühlten sich nicht missbraucht.

Bei den Mädchen fühlte sich eins von vier Mädchen (25%) mit einem entsprechenden Sexualkontakt „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht. Die anderen drei (75%) fühlten sich nicht missbraucht.

Bei Fällen mit einer Altersdifferenz von mehr als 5 Jahren war das Verhältnis nicht ganz so günstig. Von den 2.910 Jungen, die an der Studie teilnahmen, hatten 60 einen sexuellen Kontakt mit jemandem, der mehr als 5 Jahre älter war. 21 dieser Jungen (35 %) fühlte sich „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht, 39 Jungen (65 %) fühlten sich nicht missbraucht. Unter den 2.918 teilnehmenden Mädchen gaben 281 einen entsprechenden Kontakt an, 111 dieser Mädchen (39.5 %) fühlten sich „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht, 170 Mädchen (60.5 %) fühlten sich nicht missbraucht.

Die Wissenschaftler ziehen (neben dem Hinweis auf den geschlechtsspezifischen Unterschied bei der Beurteilung) zwei Schlussfolgerungen:

Die eigene Wahrnehmung von sexuellem Missbrauch unterscheidet sich tendenziell von der der Behörden

Diese „Schlussfolgerung“ drängt sich auf. Sie beschreibt im Grunde nur, was beobachtet wurde.

Die Wortwahl „tendeniell“ ist aber eher beschönigend. Korrekter wäre: „Die eigene Wahrnehmung von sexuellem Missbrauch unterscheidet sich in den meisten Fällen deutlich von der der Behörden“.

Die Toleranz der Jugendlichen gegenüber missbräuchlichen Vorfällen ist hoch

Diese Schlussfolgerung drängt sich meines Erachtens nicht auf.

Ihre Prämisse ist: die Wahrnehmung der Behörden ist korrekt, die der Betroffenen „Opfer“, die sich nicht missbraucht fühlen, ist falsch. Die (unterstellte) Fehleinschätzung dieser „Opfer“ beruht dann auf einem Irrtum bzw. einer (zu) hohen Toleranz.

Die Alternative zu einer hohen bzw. zu hohen Toleranz gegenüber missbräuchlichen Vorfällen ist, dass die Wahrnehmung der Behörden falsch ist und Fälle abdeckt, die tatsächlich keinen Missbrauch darstellen.

Die Perspektive der Behörde ergibt sich lediglich aus dem Gesetz. Wäre das Gesetz anders, dann würde sich damit auch die Perspektive ändern.

Die Perspektive der Betroffenen, die durch das Gesetz geschützt werden sollen, ist unabhängig vom Gesetz. Fühlen sie sich missbraucht, ohne dass sie durch das Gesetz vor dem Missbrauch geschützt werden, so gibt es eine Strafbarkeitslücke. Dann ist das Gesetz, das sie nicht schützt, falsch und bedarf einer Korrektur. Sind dagegen Fälle strafbar, in denen sich die Betroffenen nicht missbraucht bzw. geschädigt fühlen, dann handelt es sich um eine überschießende, ungerechte und schädliche Gesetzgebung. Dann ist das Gesetz, das jemanden bestraft ohne damit jemand anderen zu schützen, falsch und bedarf einer Korrektur.

Aus feministischer Sicht kommt der Perspektive der Betroffenen (eigentlich) eine entscheidende Bedeutung zu:

Die Definitionsmacht über sexualisierte Gewalt ist in feministischen Debatten das Recht von Betroffenen sexualisierter Gewalt, zu definieren, was sexualisierte Gewalt ist. Es geht also darum, statt objektiver Kriterien das subjektive Erleben in den Mittelpunkt zu rücken. Das, was als sexualisierte Gewalt empfunden wird, ist somit auch sexualisierte Gewalt.

Aus Wikipedia-Artikel „Definitionsmacht (sexualisierte Gewalt)

Wenn die Definitionsmacht über sexualisierte Gewalt beim Betroffenen liegen soll, dann ist das, was vom Betroffenen nicht (!) als sexualisierte Gewalt empfunden wird, somit auch keine (!) sexualisierte Gewalt.

Wer sich ernsthaft und wahrhaftig für Betroffene einsetzt, muss dies hinnehmen, auch wenn er selbst eine abweichende Deutung favorisieren würde.

Verweigert ein Opferschützer die Anerkennung und entscheidende Bedeutung der Sichtweise des Betroffenen auf das Geschehen, dann ist er nicht mehr Anwalt des Betroffenen, sondern nur noch Anwalt seiner selbst.

Schlußfolgerungen für die Wissenschaft

Öffnet man sich der Möglichkeit, dass vielleicht nicht die Einschätzung der Betroffenen defekt ist, sondern die Sicht der Behörden auf das Phänomen „Missbrauch“, dann könnte die Schlussfolgerung aus der Studie z.B. sein, dass in einer weiteren Studie genauer zu untersuchen wäre, welche Falltypen der nach dänischem Strafgesetzbuch als Missbrauch gewerteten Sexualkontakte von den durch das Gesetz vor Missbrauch geschützten Personen „definitiv“ oder „vielleicht“ als Missbrauch wahrgenommen werden und welche demgegenüber nicht (!) als Missbrauch wahrgenommen werden.

Hier sind sicherlich Unterschiede zu erwarten, die sich an den Kriterien orientieren dürften, die auch bei der erwachsenen Bevölkerung für die Einstufung relevant sind: das willentliche Einvernehmen einerseits oder das Vorhandensein von Druck, Drohung oder Gewalt andererseits.

Mich persönlich würde es nicht überraschen, wenn sich bei Vorliegen wissentlichen Einvernehmens und Abwesenheit von Druck, Drohung und Gewalt kein Junge mehr „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht fühlen würde.

Einige Erkentnisse liefert übrigens bereits die vorliegende Studie. Eine gewisse Rolle spielt anscheinend auch ein Altersunterschied von mehr als 5 Jahren. In der Studie fühlten sich nur 9.76% der Jungen „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht (12 von 123 Jungen), wenn der Altersunterschied unter 5 Jahren lag. Lag der Alterunterschied über 5 Jahren, stieg dieser Prozentsatz auf 35% (21 von 60 Jungen).

Entscheidend für die Einschätzung war aber die Anwesenheit von Zwang oder Drohungen. Diese erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass der Kontakt durch den Jungen als Missbrauch gewertet wurde um den Faktor 17.42 (angepasstes Chancenverhältnis mit 95% Konfidenzintervall). Es ist gut also 17-mal wahrscheinlicher, dass ein Kontakt als missbräuchlich gewertet wird, wenn dabei Zwang oder Drohungen eingesetzt werden. Anders ausgedrückt: gibt es keinen Zwang und keine Drohungen, fühlt sich das „Opfer“ auch nicht missbraucht.

Schlußfolgerungen für das Strafrecht

Letztlich müssten diese Erkenntnisse auch in ein neues Sexualstrafrecht münden.

Auch als pädophil (bzw. päderastisch) veranlagter Mensch liegt mir nichts daran, irgendjemanden zu missbrauchen (schlecht zu behandeln). Man sollte allerdings die Fälle, in denen jemand schlecht behandelt (missbraucht) wird, klar von den Fällen trennen, in denen das nicht der Fall ist. Der eine Fall ist strafwürdig. Der andere ist es nicht.

Ich persönlich denke, dass man die „Sondergesetzgebung“ zu Kindern im Sexualstrafrecht vollständig aufheben könnte, ohne den Schutz von Kindern zu verringern, denn auch wenn der oder die Betroffene ein Kind ist, bleibt er oder sie Mensch und damit geschützt.

Eine Belästigung bleibt eine Belästigung, ein Übergriff ein Übergriff, eine Nötigung eine Nötigung und eine Vergewaltigung eine Vergewaltigung. Möchte man das Alter des Opfers strafverschärfend berücksichtigen (was ich für sinnvoll halte), dann könnte man ein geringes Alter des Opers (Kind oder Jugendlicher) problemlos im jeweiligen Gesetz als straferhöhendes Kriterium definieren.

Stellt man sich auf den Standpunkt, dass eine fehlende wissentliche Einwilligung bei vorhandener willentlicher Einwilligung strafbar sein soll und Kinder zu einer wissentlichen Einwillgung noch nicht fähig sind, dann wäre dies die Restmenge des § 176, der dann statt „Sexueller Missbrauch von Kindern“ vielleicht etwas wertneutraler z.B. „Sexueller Kontakt mit Kindern“ benannt werden sollte.

Hieraus ergäbe sich natürlich auch die Frage, welcher Strafrahmen für diesen Fall noch angemessen wäre. Auch wenn ich persönlich die beschriebene Restmenge nicht für strafwürdig halte, irgendwo müsste man ja anfangen. Dieses „irgendwo“ müsste sicherlich deutlich unter dem aktuellen Strafrahmen (von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bzw. ein Jahr bis lebenslänglich bei „besonders schweren Fällen“) liegen.

Das Strafmaß wäre einige Jahre später dann nochmal zu überprüfen, wenn die Fälle, die übrig bleiben kriminologisch untersucht werden können, um festzustellen, welche Schäden bei den Opfern ggf. vorliegen. Eine solche Untersuchung ist nur dann sauber möglich, wenn nicht auch Opfer von Übergriffen, Nötigung und Vergewaltigung mituntersucht werden und – wie es heute verbreitet und üblich ist – unzulässiger Weise in das Ergebnis einfließen.


Änderungs-Hinweis

Die Studie lag mir zum Zeitpunkt der Erstfassung dieses Artikels nicht vollständig vor, sondern lediglich der zitierte Teil, das „Abstract“ des Studie, deren Gesamtinhalt auf der verlinkten Seite gegen Bezahlung einsehbar ist.

Es war deshalb nicht ganz klar, ob es sich bei den 1% der Jungen, die das Gefühl hatten „definitiv“ oder „vielleicht“ sexuell missbraucht worden zu sein, um 1% der Jungen handelt, die einen juristisch als Missbrauch gewerteten Sexualkontakt hatten oder – was mir aufgrund der Formulierung „1% der Jungen“ näher liegender schien – , dass sich die Prozentzahl auf die Gesamtheit aller Jungen bezieht, die an der Studie teilgenommen haben.

Ein Leserkommentar hat mich dann auf die Möglichkeit hingewiesen, wie man ohne Bezahlschranken auf praktisch jede Studie im Volltext zugreifen kann:

Die Website Sci-Hub ( siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Sci-Hub ) ermöglicht fast alle möglichen wissenschaftlichen Texte, welche über einen DOI verfügen, zu lesen (…)

Wissenschaftliche Erkenntnisse und Schriften sollten öffentlich und frei zugänglich sein. Momentan besitzen Verläge wie Elsevier in vielen Fällen die Rechte an solchen Texten und verlangen oft sehr viel Geld von Leuten, die sie lesen möchten. Die an der Forschung beteiligten Personen verdienen dabei nichts. Tatsächlich müssen sie den Verlägen sogar in der Regel zusätzliche Summen zahlen, falls sie möchten, dass ihre Artikel für die öffentlichkeit kostenlos zugänglich sind. Daher ist es wichtig, dass mehr Leute über Dienste wie Sci-Hub erfahren.

Tatsächlich kann man relativ einfach mit google eine aktuelle Seite der „Schattenbiliothek „Sci-Hub finden und dann dort mit dem Titel der Studie oder der DOI (Digital Object Identifier – eindeutige Kennung für Artikel wissenschaftlicher Fachzeitschriften etc.)aufrufen.

Ich habe die Studie nach dem Leserhinweis schnell gefunden, gelesen und einige Informationen im Originalartikel entsprechend ergänzt.

Vor allem bin ich aber dankbar für den Hinweis des Lesers, weil sie für die Zukunft auch den Zugriff auf weitere hochrelevante Inhalte ermöglicht.

2 Kommentare zu „Die Wahrnehmung sexuellen Missbrauchs durch Betroffene

  1. „Die Studie liegt mir nicht vollständig vor.“

    Die Website Sci-Hub ( siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Sci-Hub ) ermöglicht fast alle möglichen wissenschaftlichen Texte, welche über einen DOI verfügen, zu lesen: https://sci-hub.tw/

    bzw. für die betreffende Studie: https://sci-hub.tw/https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1080/08035250600589033

    Wissenschaftliche Erkenntnisse und Schriften sollten öffentlich und frei zugänglich sein. Momentan besitzen Verläge wie Elsevier in vielen Fällen die Rechte an solchen Texten und verlangen oft sehr viel Geld von Leuten, die sie lesen möchten. Die an der Forschung beteiligten Personen verdienen dabei nichts. Tatsächlich müssen sie den Verlägen sogar in der Regel zusätzliche Summen zahlen, falls sie möchten, dass ihre Artikel für die öffentlichkeit kostenlos zugänglich sind. Daher ist es wichtig, dass mehr Leute über Dienste wie Sci-Hub erfahren.

    Zudem haben im Allgemeinen Autor*innen von Studien das Recht, auf Anfrage ihre Texte an interessierte Einzelpersonen zum Beispiel per Email zu senden.

    Like

    1. Herzlichen Dank für diesen Hinweis. Ich habe die Studie nun gelesen und den Artikel entsprechend überarbeitet sowie einen Änderungshinweis zugefügt, in dem auch die Sci-Hub Webseite besonders erwähnt ist.

      Like

Hinterlasse einen Kommentar