Systematisches Versagen im Kinderschutz

Im Februar und März erschienen Artikel in zwei deutschen Leitmedien, die jeweils ein Schlaglicht auf einen spezifischen Aspekt des gesamtgesellschaftlichen Versagen im Kinderschutz werfen.

Fehlallokation von Aufmerksamkeit und Ressourcen – wer nicht aus dem richtigen Grund leidet, wird allein gelassen.

In „Studie zu psychischer Gewalt – Die häufigste Form der Misshandlung“ berichtet die Seite Tagesschau.de:

Laut einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Studie, an der White beteiligt war, ist emotionale Gewalt die häufigste Form der Misshandlung von Kindern und Jugendlichen. „Unsere beiden wichtigsten Erkenntnisse sind, dass emotionale Misshandlung nicht nur am öftesten vorkam in unserer Stichprobe, sondern auch die schwerwiegendsten Folgen für die psychische Gesundheit der Kinder hatte. (…) UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, geht davon aus, dass emotionale Gewalt oder Vernachlässigung die verbreitetste Form ist und jedes dritte Kind weltweit davon betroffen ist. (…) Angesichts der Studienergebnisse wünscht sich White vor allem eins: mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Das gelte einerseits für die breite Öffentlichkeit: Denn während Schläge und sexueller Missbrauch sehr oft thematisiert werden und es zahlreiche Hilfsangebote gibt, findet psychische oder emotionale Gewalt wenig öffentliche Beachtung, etwa in Medienberichten oder Beratungsstellen für Eltern.

Weil man es zu leicht überliest, nochmal herausgestellt: emotionale Gewalt kam am häufigsten vor und hatte die schwerwiegendsten Folgen für die psychische Gesundheit der Kinder.

Mit emotionaler Gewalt sind Dinge gemeint wie Demütigungen, Herabsetzungen, Erniedrigungen durch Worte, Einschüchterung, ständiges Anschreien oder Angstmachen, Drohungen, Liebesentzug, offene Verachtung, Isolierung oder emotionale Kälte.

Medial findet emotionale Gewalt gegen Kinder aber so gut wie gar nicht statt. Im Strafgesetzbuch schon gar nicht. Fast alles an Aufmerksamkeit und Ressourcen wird vom „totalen Krieg“ gegen „sexuelle Gewalt“ gegen Kinder gefressen.

In Hinblick auf die Häufigkeit wird im Artikel dieses Schaubild präsentiert, das verdeutlicht, dass viele Betroffene auch Opfer verschiedener Missbrauchs- und Misshandungsformen gleichzeitig sind:

Geteilt via tagesschau.de

Etwas problematisch an dem Schaubild ist, dass sexuelle und körperliche Gewalt zusammengefasst sind. Wenn man in die (auch im Tagesschau-de Artikel verlinkte Studie) schaut findet man dieses Schaubild:

Von allen Betroffenen waren also 81% Opfer von emotionaler Gewalt, 64 % von Vernachlässigung und 42.2 % von Sexueller und körperlicher Gewalt. Die Anteile zu sexueller und körperlicher Gewalt sind in der Tabelle 1 der Studie weiter aufgeschlüsselt. Sexuelle Gewalt kam danach bei 13.4 % der Fälle vor, körperliche Gewalt bei 35 %.

Die 13.4 % der Fälle erhalten fast 100% der Aufmerksamkeit. Sexueller Kindesmissbrauch wird inzwischen regelmäßig in den Medien zur Pandemie und Gesundheitskatastrophe erklärt, inklusive der gebetsmühlenartigen Behauptungen wie „immer mehr“, „immer jünger“, „immer brutaler“. Tatsächlich sind die Zahlen zu sexuellem Kindesmissbrauch aber lt. Kriminalstatistik seit Jahrzehnten im wesentlich unverändert bis leicht rückläufig.

Damit ist der erste Artikel oberflächlich gesehen ausgewertet. Die Haupterkenntnis ist, dass die 81% der Opfer von Misshandlung, die am meisten unter den Taten leiden, vergessen und allein gelassen werden. Soweit der Erkenntnishorizont der Tagesschau. Die Forderung ist: mehr Bewusstsein schaffen. Das ist natürlich zu unterstützen. Nicht wirklich erkannt ist aber, dass die 81% nicht zuletzt deshalb allein gelassen werden, weil man völlig (und in ungesunder Weise) auf die 13.4% Prozent fixiert ist.

Natürlich könnte man sich wünschen, dass zu den 100% Aufmerksamkeit für Opfer von „sexueller Gewalt“ noch 100% Prozent Aufmerksamkeit für Opfer emotionalen Missbrauchs hinzukommen könnten. Aber Aufmerksamkeit und auch Geld sind knappe Güter. Mehr als 100% gibt es nicht, bzw. lässt sich in der Realität nicht durchhalten. Wenn man möglichst viel erreichen will, muss man die Mittel, die vorhanden sind, ausgewogen und der objektiven Notwendigkeit entsprechend verteilen. Heute geschieht dies nicht.

Ein weiterer Aspekt, der im Grunde auch langsam bereits zum Thema des zweiten Artikels überleitet, ist, dass das tatsächliche Problem „sexueller Gewalt“ in Wirklichkeit kleiner ist, als die 13.4 % Opferanteil suggerieren. Laut der inzwischen durch Lobbyisten weltweit durchgesetzten Definition ist mit „sexueller Gewalt“ jede sexuelle Handlung an oder mit einem Kind gemeint. Die Meinung und das subjektive Erleben des Kindes ist dabei völlig unerheblich und interessiert den „Kinderschutz“ nicht. Dabei ist sie eigentlich entscheidend, wenn es wirklich um das Kindeswohl geht.

Eine für die Bevölkerung repräsentative (!) nationale dänische Studie hatte zum Ergebnis, dass sich bei Fällen eines sexuellen Kontakts mit einer Altersdifferenz von mehr als 5 Jahren 35 % der betroffenen Jungen „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht fühlte, 65 % fühlte sich nicht missbraucht. Bei den Mädchen fühlten sich 39.5 % „definitiv“ oder „vielleicht“ missbraucht, 60.5 % fühlten sich nicht missbraucht. Die Ergebnisse für Dänemark dürften auf Deutschland und andere europäische Länder übertragbar sein.

Diesen Kindern muss nicht etwa dringend beigebracht werden, dass sie ganz furchtbar geschädigt wurden, ihre Seele nun eigentlich tot ist und sie realistischerweise jede Hoffnung auf ihr Lebensglück fahren lassen sollten. Tut man es doch, dann ist das nichts anderes, als eine (bisher leider kaum erkannte) Sonderform von emotionalem Kindesmissbrauch.

Um dies zu erkennen, muss man keineswegs der Meinung sein, dass es auch akzeptable sexuelle Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern geben kann, sondern einfach nur ein objektives Interesse am Wohlergehen der Kinder haben und den möglicherweise vorhandenen eigenen subjektiven Schrecken oder Ekel im Interesse der Kinder zurückstellen. Hierzu ein kurzes Zitat von Fr. Prof. Dr. Michaela Pfundmair (lehrt Sozialpsychologie an der LMU München) aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:

Als beste Schutzfaktoren bei sexuellen Übergriffen hat sich in der Forschung unter anderem herauskristallisiert, zu Kontrollüberzeugungen zu gelangen, Optimismus beizubehalten, wichtige Bindungen aufrechtzuerhalten – aber auch so etwas wie die externale Attribution der Schuld, also sich klar zu machen, dass man selbst nicht für das Geschehene verantwortlich ist. Natürlich sind auch Psychotherapien eine Möglichkeit. Vielleicht aber haben viele der Betroffenen keine „seelische Erschütterung“ erfahren. Dann sollte man das auch nicht weiter aufbauschen. (…) Tatsächlich kann Missbrauch in der Kindheit das Risiko für eine Vielzahl psychischer Störungen erhöhen – aber: die Zusammenhänge sind im Allgemeinen schwach bis mäßig ausgeprägt. Das heißt, Missbrauch ist nur ein unspezifischer Risikofaktor. Der Anteil symptomfrei bleibender Betroffener wird auf etwa 40 Prozent geschätzt.

Wer sich nicht missbraucht fühlt oder durch einen Missbrauch keine seelische Erschütterung erlebt hat, bleibt in der Regel symptomfrei. Indoktriniert man jemandem, um ihm vor Augen zu führen, wie schrecklich er geschädigt wurde, so hat das massive negative Konsequenzen für den Betroffenen. Um diese Art von Opfer-Indoktrination und ihre Konsequenzen für die dadurch Geschädigten geht es im zweiten Artikel.

Opfer-Indoktrination

Der Spiegel-Artikel „Vermeintliche Opfer ritueller Gewalt – Im Wahn der Therapeuten“ thematisiert dabei allerdings ausschließlich die Behandlung angeblicher ritueller Gewalt. Sichtbar wird deshalb im Grunde nur die Spitze eines Eisbergs: ein kleiner Teilbereich des großen Feldes (sexueller) Missbrauch, bei dem der Missbrauch mit dem Thema Missbrauch und der dadurch angerichtete Schaden besonders leicht zu erkennen ist – aber trotzdem bisher weitgehend ignoriert wurde.

Auszüge aus dem Artikel zum individuellen Schicksal einer Betroffenen:

Im Frühjahr 2018 versucht Malin Weber, ihr Leben in den Griff zu bekommen, nicht zum ersten Mal. Sie ist zu der Zeit 27 Jahre alt und will eine schwierige Trennung verarbeiten. Ihre Kindheit sei schwierig gewesen. Ohrfeigen vom jähzornigen Stiefvater. Mit elf, sagt sie, habe der Vater eines Freundes sie missbraucht. In der fünften Klasse begann sie stark zu stottern. Das Gymnasium habe sie ohne Abschluss verlassen.

Später kommt sie in therapeutischen Wohngruppen unter, in Gastfamilien, psychiatrischen Kliniken. Weber sagt, sie habe sich selbst verletzt, sei depressiv gewesen, zeitweise suizidgefährdet. Sie lebt von Hartz IV. 2015 heiratet sie, doch ihr Mann habe getrunken und sei gewalttätig geworden. Nach drei Jahren ist die Ehe am Ende.

Davon will sich Weber im Gezeiten Haus nahe Köln lösen, einer Privatklinik mit Schwerpunkt Traditionelle Chinesische Medizin. Sie leidet unter Schlafstörungen, isst wenig, wirkt abwesend. Das größte Handicap ist ihr Stottern. Unter Stress bringt sie kaum ein Wort heraus. Weber erinnert sich: »Die Therapeutin dort meinte, hinter meinen Symptomen müsse noch mehr stecken.« Mit der Verdachtsdiagnose »Dissoziative Identitätsstörung« verweist man sie an eine angebliche Traumaexpertin. (…)

Im Juni 2018 betritt Malin Weber zum ersten Mal die Praxis von Jutta Stegemann in Münster. Nach eigener Auskunft arbeitet die approbierte psychologische Psychotherapeutin seit 20 Jahren mit »Überlebenden ritueller Gewalt«. Stegemann führt auch die entsprechende Beratungsstelle beim Bistum Münster.

Barsch und autoritär habe Jutta Stegemann auf sie gewirkt, sagt Weber. Ihre traumatische Trennung sei »schnell gar kein Thema mehr« gewesen. »Es ging nur um den Satanismus.« Vor dem Familiengericht wird Weber sagen, sie hätte durch ihre Therapeutin »zum ersten Mal davon erfahren, was passiert sein soll«. Gemeint ist der angebliche satanische Missbrauch.

In der seriösen Traumatherapie geht es darum, Klienten zu stabilisieren und sie gegen Erinnerungsschübe zu wappnen. Ihre Therapeutin hingegen, so schildert es Weber, habe von ihr verlangt, wieder und wieder Bilder des vermeintlichen Missbrauchs in sich aufsteigen zu lassen, an den sie keine Erinnerung gehabt habe.

Mit bunten Steinen soll sie ihre »Innenpersönlichkeiten« aufstellen und ihnen Namen geben. Davon hat Weber noch ein Foto. Als »Erinnerung« notiert sie: ein Mädchen, das von einer Hohepriesterin zum Altar geführt wird, »ich musste folgen«, Glockenklänge, ein Messer, Blut spritzt – genau wie in einem Buch beschrieben, das sie auf Stegemanns Anweisung durchgearbeitet habe. Die Therapeutin habe das als »Durchbruch« gefeiert.

Stegemann habe ihr erklärt, sie sei in den kultischen Kreis hineingeboren worden und verfüge über Geheimwissen. Ihr schweres Stottern resultiere aus einem Redeverbot durch die Kult-Obersten, Logopädie sei sinnlos. Ohne dass sie sich dessen bewusst sei, werde sie bis in die Gegenwart gefoltert und missbraucht. Um ihre hierfür geeigneten »Persönlichkeitsanteile nach vorne zu holen«, benutzten die Täter etwa Musik aus einem Autofenster. Es könne passieren, dass sie sich dann in das Auto setze und zu Ritualen abtransportiert werde.

Um sich dagegen wehren zu können, habe Stegemann gesagt, müsse Weber alle ihre »Innenpersönlichkeiten« miteinander versöhnen. Therapiedauer: bis zu zehn Jahren.

Der SPIEGEL hat Jutta Stegemann zu einem Gespräch getroffen. Drei Stunden lang doziert sie über »Mind-Control« und »Innenpersönlichkeiten«, erwähnt dabei den Auschwitz-Arzt Josef Mengele, den belgischen Kinderschänder Marc Dutroux, den Campingplatz in Lügde. Folgt man Stegemann, stecken hinter allem satanistische Täterkreise. Sie spricht von einem Chirurgen, der Chips aus den Körpern der Opfer entferne – mit denen ihre Missbraucher sie orteten.

Fragt man die Therapeutin nach ihrer ehemaligen Klientin Malin Weber, muss man ihre Antwort so verstehen, als hätten die Täter Weber auf Stegemann angesetzt, um sie zu stoppen – weil sie zu gute Arbeit leiste.

(…)

Im Rückblick ist das ihre bitterste Erkenntnis: Wie manipulierbar sie war und wie leichtgläubig. Wie sie nach einer gescheiterten Ehe Halt bei einer Therapeutin suchte und sich stattdessen von ihr in eine paranoide Scheinrealität ziehen ließ. In einen psychischen Abgrund, ohne Hoffnung auf ein eigenständiges Leben. Erzählen kann Malin Weber das heute nur, weil sie es schaffte, sich aus eigener Kraft aus diesem therapeutischen Wahngebilde zu befreien. Diese Stärke, das ahnt sie, besitzen viele andere nicht.

Noch immer kämpft sie gegen innere Bilder an, die in ihr hochsteigen: dunkle Gestalten in Kutten, Messer, Blut – alles Scheinerinnerungen, entstanden in 83 Therapiesitzungen, bezahlt von ihrer Krankenkasse. Ohne sich dessen bewusst zu sein, so habe es ihre Therapeutin ihr suggeriert, stehe sie im Bann eines Satanskults. Ein Täterkreis, angeführt von ihrem Stiefvater, habe sie in ihrer frühen Kindheit mental programmiert, um sie ein Leben lang in Ritualen missbrauchen zu können. Quer durch die Republik spannte sich das Netzwerk von Satansjüngern, und noch immer hätten diese die Kontrolle über sie, davon war die Therapeutin überzeugt.

Um sich aus dem Kult lösen zu können, müsse Weber sich an alles erinnern, mit ihrer Hilfe.

Je länger die Therapie dauerte, sagt Malin Weber heute, desto schlechter habe sie sich gefühlt. Manchmal sei sie nach den Sitzungen in ihrer Wohnung zusammengebrochen. Zu der Zeit, sagt sie, habe sie selbst geglaubt, der Kult habe sie in seiner Gewalt.

Weber ging zu jener Zeit nicht mehr allein vor die Tür – aus Angst, sie könnte von den Tätern entführt werden. Auf Anweisung ihrer Therapeutin habe sie Kontakte zu Freunden und Familie abgebrochen. Sie schaltete ihr Handy aus, um nicht geortet zu werden. Zeitweise glaubte sie, mindestens acht Persönlichkeiten führten in ihr ein Eigenleben.

Heute weiß Malin Weber, dass sie tatsächlich schwer traumatisiert wurde – nicht durch satanistische Rituale, sondern durch die angebliche Traumatherapie.

(…)

Anfang 2020 kehrt Malin Weber aus einem Urlaub zurück, ungeplant schwanger. »Das stärkste Gefühl war Freude«, sagt sie. Aber auch Angst – vor der Reaktion ihrer Therapeutin. Als Jutta Stegemann von der Schwangerschaft erfährt, habe sie versucht, Weber weiszumachen, das Kind sei bei einer Massenvergewaltigung durch Kultanhänger entstanden. Das Ungeborene schwebe in höchster Gefahr. Mit dieser Sorge wendet sich Stegemann ans Jugendamt. Weber sagt: gegen ihren Willen.

Aus den Akten des Jugendamts Unna geht hervor, was die Therapeutin dort noch vorbringt: Ein anderes Kind Webers sei »vorgeburtlich geopfert« worden. Es sei nicht auszuschließen, dass Weber ihr Kind aufgrund der Programmierung den Tätern zum Missbrauch überlassen könne.

Das Jugendamt schaltet das Amtsgericht Unna ein. Zwei Wochen vor der Geburt des Kindes tagt das Gericht erstmals.

Der Betreuer, der Weber wegen ihres Stotterns zu Terminen bei Ämtern und Ärzten begleitet, bestätigt im Verfahren, sie sei seit Längerem »richtig stabil«. Aus den Schilderungen der Beteiligten ergibt sich: Weber nimmt alle gynäkologischen Vorsorgetermine wahr, hat sich um eine Hebamme gekümmert, geht zur Geburtsvorbereitung und – noch – zur Therapie bei Jutta Stegemann.

Weber gibt zu Protokoll, sie befinde sich seit 2010 im Ausstieg aus dem Satanskult. Sie traue sich jedoch zu, mit einer ambulanten Hilfe für ihr Kind zu sorgen. Und: Es sei ihre erste Schwangerschaft.

Weber legt dazu eine Bescheinigung ihrer Frauenärztin vor, wonach keine Spuren einer früheren Geburt feststellbar sind. Ein Widerspruch zur Behauptung Stegemanns über das geopferte Kind.

Unbeirrt trägt die Vertreterin des Jugendamts trotzdem vor, »nach Aussage von Frau Stegemann« könne man nicht wissen, wie die zahlreichen »Innenpersönlichkeiten« auf das Kind reagieren würden. Diese Sorge teilt die Richterin und entzieht Malin Weber bereits vor der Geburt vorläufig das Sorgerecht. Als ihre Tochter im September 2020 zur Welt kommt, muss Weber mit ihr in eine Mutter-Kind-Einrichtung ziehen.

Weber erinnert sich, weder die Richterin noch sonst irgendjemand habe nach Belegen für die Existenz der Satanisten gefragt. Das Protokoll bestätigt das. »Die haben das alle einfach geglaubt«, sagt Weber. (…)

Während Malin Weber noch mit ihrer Tochter in der Mutter-Kind-Einrichtung lebt, lässt Jutta Stegemann erst Termine ausfallen, dann reißt die Therapie ganz ab. Eine Rechnung weist den Termin am 8. April 2021 als letzte von 83 Sitzungen aus.

»Je weniger Therapie ich hatte, desto besser ging es mir«, sagt Weber. »Immer seltener kamen irgendwelche Bilder hoch. Irgendwann habe ich begriffen, dass alles nicht stimmte.«

Am 28. Juni 2021 entscheidet das Gericht über das Sorgerecht für ihr Kind. Laut Akten beschreibt eine Mitarbeiterin der Mutter-Kind-Einrichtung Weber als umsichtig, gut informiert, »eine ganz verliebte Mutter«. Nur einmal, als ihr die vom Gericht beauftragte Psychiaterin noch vor dem Abschluss der Begutachtung eröffnet habe, sie sehe für sie keine Zukunft mit dem Kind, habe Malin Weber den ganzen Tag lang geweint.

Die Psychiaterin führt keine eigene Diagnostik durch. Was die Dissoziative Identitätsstörung betrifft, beruft sie sich auf die »Angaben der behandelnden Therapeutin Jutta Stegemann«. Die andere Gutachterin, eine Psychologin, fasst zusammen: »An der Liebe der Mutter zum Kind wird nicht gezweifelt.« Doch Stegemann zufolge sei Weber in »bis zu mehrere tausend Innenpersönlichkeiten« gespalten, auch solche, die weiterhin Kontakt zum Kult hielten. »Gemäß Stegemann« ein »unkalkulierbares Restrisiko«.

Vor Gericht trägt die Gutachterin vor, Weber habe »eine der schwersten psychiatrischen Erkrankungen überhaupt«. Im Gutachten schreibt sie, der Persönlichkeitswechsel zeige sich nach Stegemanns Angaben unter anderem durch den »Wechsel der Augenfarbe«. Niemandem, auch nicht der Richterin, fällt auf, dass das physiologisch nicht möglich ist.

Dann kommt der Gerichtsbeschluss: Die Kindesmutter könne »hoch belastet durch den Ausstieg aus dem Kult« und »ständig auf der Hut vor potenziellen Übergriffen« ihrer Erziehungsverantwortung für das Kind nicht gerecht werden. Webers Tochter kommt in eine Pflegefamilie. (…)

Seit August 2021 läuft beim Oberlandesgericht Hamm Malin Webers Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts zum Sorgerecht. Im Mai 2022 hat sie bei der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen eine Beschwerde über ihre Therapeutin eingereicht, bislang ohne Antwort.

In der Zwischenzeit hat Weber den Führerschein gemacht. Sie strebt eine IT-Ausbildung an und geht regelmäßig zur Logopädie. Für Termine bei Ämtern und Ärzten braucht sie keine Begleitung mehr. Seit anderthalb Jahren hat sie einen festen Lebenspartner.

Das Oberlandesgericht Hamm hat eine neue Psychiaterin damit beauftragt, Malin Weber zu begutachten. Bis zur Verhandlung kann es noch Monate dauern. Bis dahin darf sie ihre Tochter nur alle drei Wochen sehen, maximal zwei Stunden, unter Aufsicht der Pflegemutter und einer Betreuerin.

Das völlig unnötige Elend, das sich in dem geschilderten Einzelschicksal manifierstiert, ist jenseits dessen, was man normalerweise für möglich halten würde. Die Behandlung von Frau Weber durch ihre Therapeutin, die ihr gegenüber eine besondere Vertrauensstellung innehatte, ist schlicht bösartig. Es ist aber wohl nicht mal ausgeschlossen, dass die Therapeutin sogar noch glaubt, was sie ihrer Patientin eingeredet hat. Sie ist wohl entweder kriminell oder eine gestörte Persönlichkeit, die nur noch bedingt zurechnungsfähig ist. Trotzdem muss sie bisher keine Konsequenzen fürchten. Sie wird weiter auf Menschen losgelassen und fügt mit Sicherheit auch anderen Patienten enormen Schaden zu.

Ein Ökosystem, das die Opfer-Indoktrination trägt

Sie wird dabei von einem Ökosystem geschützt und unterstützt. Im Artikel des Spiegel werden auch einige Personen und Organisationen benannt, die sich in besonderer Weise schuldig gemacht oder in der Auseinandersetzung mit dem Thema versagt haben. Der deutsche Staat, Wissenschaftler und Kinderschutzorganisationen wirken dabei mit, die Schädigung der Hilfesuchenden zu ermöglichen. Auszüge zum Gesamtphänomen aus dem Artikel – die Namen unrühmlich involvierter Personen und Organisationen habe ich durch Fettschrift im Text hervorgehoben:

Die Existenz von Geheimkulten, in denen im Verborgenen schwerste Verbrechen begangen werden, ist seit Jahrhunderten Stoff von Verschwörungserzählungen – im Mittelalter mit antisemitischen Zügen: Juden, hieß es, würden das Blut von Christenkindern trinken. Heute geht es, wie in Webers Fall, eher um Satansanhänger, die angeblich in schwarzen Messen ihre Opfer foltern, deren Blut trinken und sie manipulieren.

In dem auch auf Deutsch erschienenen Fachbuch einer kanadischen Psychologin mit dem Titel »Jenseits des Vorstellbaren« beschreiben Betroffene detailliert regelmäßige Menschenopfer an satanischen Feiertagen. Ein angebliches ehemaliges Mitglied bezeugt, im Kult vergewaltige ein »Mann im Teufelsgewand« Kinder im Alter zwischen 12 und 18 Monaten. Mädchen würden erstmals im Alter zwischen 11 und 13 Jahren geschwängert, ihr »erstgeborener männlicher Säugling« werde »in seinen ersten Lebenswochen nach Opfermanier getötet«. Es gibt keinen Beleg für derartige Verbrechen.

Über die angeblichen Täterkreise heißt es in einer Broschüre des Fachkreises »Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen« beim Bundesfamilienministerium aus dem Jahr 2018, mancherorts seien »Familien generationsübergreifend eingebunden«. Oft wird auch darauf hingewiesen, dass die Täterinnen und Täter eine gehobene Stellung in der Gesellschaft hätten: Beamte, Lehrer, Richter, Politiker.

In den Medien finden vermeintliche Betroffene Gehör: 2020 spricht eine Frau in einem Video von »Ze.tt«, dem Onlinemagazin der »Zeit«, über Ekeltraining durch Kultanhänger und Kindstötungen, im Jahr darauf brachte der Westdeutsche Rundfunk eine Radiosendung über »Kinder, die in Sekten ausgebeutet werden«. Zuletzt erschien in der »taz« eine Reportage über rituelle Gewalt. Überprüfbare Angaben, die auf kultische Netzwerke schließen lassen, fehlen in allen Beiträgen.

Kein Grund zu zweifeln bei denjenigen, die solche Erzählungen weitertragen: Das zeige nur, dass die Vertuschung rituellen Missbrauchs auch von Ärzten, Ermittlern und der Justiz betrieben werde. Und der Rest der Gesellschaft verschließe die Augen vor ritueller Gewalt – zu schrecklich sei die Vorstellung solcher Exzesse.

Kann das sein?

Wohl nie verfolgte die Gesellschaft so entschlossen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs wie heute. Fortlaufend decken Ermittler erschütternde Fälle organisierter sexueller Gewalt auf, in denen Täterinnen und Täter strategisch vorgehen, Kinder für den Missbrauch weiterreichen. Staufen, Lügde, Münster, Wermelskirchen – Medien berichten detailreich über solche Tatkomplexe. Es gibt Zeugen, Spuren, Aufnahmen, manchmal auch Geständnisse.

Was es in diesen Fällen nicht gibt: Hinweise auf kultische Hintergründe.

(…) In den Niederlanden liegt seit Ende 2022 der Abschlussbericht einer Untersuchungskommission zum Thema »Rituelle Gewalt« vor. Ergebnis: Trotz etlicher Opferberichte gebe es im Land keinen Nachweis für die Existenz satanistischen Missbrauchs. (…)

Folgt man Experten wie Bianca Liebrand von der Beratungsstelle Sekten-Info Nordrhein-Westfalen in Essen, liegt der Skandal beim Thema ritueller Missbrauch nicht im kollektiven Wegsehen, sondern in fehlgeleiteten Hilfsangeboten. Jedes Jahr, so Liebrand, meldeten sich bei der Sekten-Info etwa 20 Menschen, die in einer Therapie erstmals erfahren haben wollen, Opfer ritueller Gewalt geworden zu sein. »Nach der Therapie sind sie noch destabilisierter als zuvor«, sagt Liebrand. »Wüsste man von einem Arzt, dass er mit falschen Operationsmethoden Menschen gefährdet, gäbe es einen Aufschrei.«

Und es gibt weitere Opfer: die zu Unrecht Beschuldigten. Hilfe finden sie beim Verein False Memory Deutschland, übersetzt: »Falsche Erinnerung«. Gründerin Heide-Marie Cammans berät jene, die von einem erwachsenen Familienmitglied aus dem Nichts des kultischen Missbrauchs beschuldigt wurden – oft, nachdem sie aus anderen Gründen therapeutische Hilfe suchten. »Was in solchen Therapien geschieht, bringt unendliches Leid über die Familien«, sagt Cammans, die auch Malin Weber unterstützt.

Mehr als 600 Fälle, in denen induzierte Erinnerungen eine Rolle spielen, kenne sie mittlerweile, sagt Cammans. Sehr selten stecke eine psychische Krankheit oder Autosuggestion hinter der falschen Erinnerung. Meist sei sie durch eine Therapie erzeugt.

Arbeit mit »Überlebenden« sogenannter ritueller Gewalt beschäftigt eine Szene von Therapeuten, darunter Heilpraktiker und Familienaufsteller. Sie behandeln vermeintliche Folgen schwerster Leidenserfahrungen – die es so nach allem Ermessen nie gegeben hat – oft so lange, bis die Klienten selbst überzeugt sind, extreme körperliche und sexuelle Gewalt in einem Kult erlebt zu haben. Dabei handelt es sich nicht um einen durchweg dubiosen Zirkel.

Involviert sind renommierte Vertreter ihres Fachs, allen voran die Traumatherapeutin Michaela Huber. Sie tritt schon seit mehr als 20 Jahren als Kennerin okkulter Sektengewalt auf – und hat in dieser Rolle vermutlich Hunderte Therapeuten geschult.

Ihr vermeintliches Insiderwissen verbreiten diese Fachkräfte in Opferschutzvereinen, Universitätskliniken, Bistümern. Beratungsstellen wurden geschaffen, Bücher veröffentlicht, Fortbildungen und Fachtagungen veranstaltet. Auch das Bistum Münster befeuert – trotz massiver Kritik aus anderen Bistümern und aus der evangelischen Kirche – Legenden um den rituellen Missbrauch. Etwa mit dem Aufklärungsvideo »Im Namen des Teufels: Rituelle Gewalt in satanistischen Sekten« aus dem Jahr 2016.

Um auf höchster Ebene für das Thema zu sensibilisieren, sprachen 2017 Expertinnen für rituelle Gewalt vor der »Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs« über das Leid der Betroffenen – mit Erfolg. Der damalige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung richtete ein Hilfetelefon für Opfer ritueller Gewalt ein, Forschungsgelder flossen.

Eine Vielzahl selbst ernannter Experten profitiert so von der Erzählung des satanischen Missbrauchs. Betroffene finden Anerkennung, indem sie Aussteigerinterviews geben oder Selbsthilfe-Netzwerke organisieren. Therapeuten können Patienten, die mit realem Leidensdruck in ihre Praxen kommen, zumindest einen scheinbaren Grund für deren Probleme liefern. Manche Helfer verlieren dabei offenbar die professionelle Distanz und halten alles für wahr, was sie hören. Manche überhöhen ihre eigene Rolle – sie behandeln nicht nur die schlimmsten Fälle, sie kennen auch geheimste Praktiken.

Dabei ist vieles, was in der Szene als Tatsache verbreitet wird, offensichtlicher Unsinn. Fragt man nach bei Polizei und Staatsanwaltschaften, kann sich niemand an die Aufdeckung kultischer Täternetzwerke erinnern. Manche Betroffene bezichtigen ihre ganze Familie des satanistischen Missbrauchs. Doch auch Vertreter der Szene können keinen Fall nennen, in dem das nachweislich geschah. Geht es um Verbrechen kultischer Täterkreise, fehlten in den Gewaltschilderungen angeblich Betroffener stets nachprüfbare Indizien wie Angaben zu Tatorten, Namen, Verletzungsmustern.

Die Bremer Kriminologin Petra Hasselmann ist dem Phänomen nachgegangen. Dafür sprach sie mit zahlreichen Menschen, die sich als »Überlebende« ritueller Gewalt bezeichnen. Diese setzten sich nicht mit der Frage nach der Glaubhaftigkeit ihrer Erzählungen auseinander, so Hasselmanns Resümee, sondern machten rituelle Gewalt zur »Glaubensfrage«, an der sich Freund und Feind scheiden. Wer Betroffenen nicht glaube, stehe aus Sicht der Szene auf der Täterseite.

Doch wer blind glaubt, unterstützt, dass Hilfesuchende wie Malin Weber auf andere Art zu Opfern werden. (…)

An einem Tag im Oktober hat das Trauma Institut Mainz zu einer Tagung geladen: »Dissoziative Identitätsstörung – Diagnose und Therapie«. Gekommen sind drei Mitarbeiter des Opferhilfevereins Weißer Ring und sieben Psychotherapeuten. Die Psychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz erkennt das Seminar als Fortbildung an.

Brigitte Bosse leitet das Institut, sie arbeitet seit 30 Jahren mit Opfern sexueller Gewalt. Die ärztliche Psychotherapeutin sitzt in einem Gremium der Deutschen Bischofskonferenz, ist gefragte Gesprächspartnerin an Universitäten und in Ministerien, die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung hörte sie als Expertin.

An diesem Oktobertag kommt sie kurz vor der Mittagspause auf die »Dissoziative Identitätsstörung infolge ritualisierter Gewalt« zu sprechen. Die Seminarteilnehmer lernen, es sei Tätern möglich, die Persönlichkeit eines Opfers bewusst in »Innenmenschen« aufzuspalten, die jeweils verschiedene Aufgaben hätten – etwa »Verfolger«, »Beschützer« oder »innere Berichterstatter«, die den Tätern melden, wenn das Opfer beabsichtige, zur Polizei gehen.

Bosse bittet eine Frau nach vorn. Sie stellt sich als Betroffene ritueller Gewalt vor. Sie erzählt unter anderem, sie erinnere sich, wie sie als Säugling, gerade drei Monate alt, den erigierten Penis ihres Vaters gehalten habe. Dabei schließen Gedächtnisforscher ein so frühes Erinnerungsvermögen übereinstimmend aus. Auch die angeblichen Psychotechniken der Kulte sind für Fachleute nicht nachvollziehbar.

In der Szene verweist man hingegen auf das Werk der kanadischen Psychologin Alison Miller. In ihrem Buch »Jenseits des Vorstellbaren« beschreibt sie, ein Säugling lasse sich programmieren, etwa indem man ihm Nadeln in die Fußsohlen steche und Elektroden in Körperöffnungen einführe. Nach leichten Schocks, so Miller, heule das Kind auf. Danach blieben »zwischen fünfzehn Sekunden und einer Minute«, in der eine Trainerin »der neuen kindlichen Innenperson einen Namen und ein magisches Symbol zuweisen kann«.

Das Deutsche Ärzteblatt, die offizielle Fachzeitschrift der Bundesärztekammer, lobte im Jahr 2014 das »eindrückliche und sehr kenntnisreiche Buch«.

Auch in Mainz werden Millers Bücher empfohlen. Kein Teilnehmer hinterfragt offen die Behauptung, in Deutschland könnten Satanisten unbehelligt morden. Oder wie es sein könne, dass Täterkreise aus ansonsten unauffälligen Anwälten, Ärzten und Politikern über Gehirnwäsche-Techniken verfügten, die Geheimdienste seit Jahrzehnten zu erlangen versuchen.

Auf Nachfragen schwächt Bosse nach dem Seminar per E-Mail ihre Aussagen ab, schickt überarbeitete Folien, um ein »missverständliches Bild« zu vermeiden. Begriffe wie »Programmierung« hat sie gelöscht. (…)

Auch in Deutschland haben sich Wissenschaftler mit der Verschwörungserzählung befasst, jedoch auf andere Weise. Am renommierten Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf entstanden in einer Forschungsgruppe um den Sexualwissenschaftler und forensischen Psychiater Peer Briken mehrere Arbeiten zum Thema organisierte und rituelle Gewalt: über Täter, Psychotechniken, Hindernisse bei der Aufdeckung der Taten.

Die Ergebnisse entsprechen wenig überraschend dem, was in der Szene als Tatsachenwissen verbreitet wird: Zu Wort kommen Personen, die sich selbst als Betroffene definieren, und Therapeuten und Sozialarbeiter, die mit »Überlebenden« arbeiten. Was diese angeben, wird an keiner Stelle hinterfragt.

Briken sagt, Anstoß zu den Untersuchungen hätten Berichte Betroffener vor der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gegeben. Briken war selbst Mitglied der Kommission. »Wir haben gesehen, dass bei den Betroffenen großes Leid vorhanden ist. Wir haben von Menschen gehört, die nicht mehr arbeitsfähig sind, die sich suizidieren im Zusammenhang mit organisierter Gewalt. Darüber haben wir bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse.«

Im Bericht der Schweizer Kommission heißt es, wer den Aussagen angeblicher Opfer ungeprüft Glauben schenke, leiste schädlichen Therapien Vorschub und lasse Betroffenen keine Chance, ihrer Parallelwelt zu entkommen. Deshalb fordern die Autoren »Realitätschecks« ein.

Fragt man Peer Briken danach, sagt er: »Das war bei dieser Untersuchung nicht unser Anliegen und wäre mit dem methodischen Vorgehen auch unmöglich gewesen.« Man habe an keiner Stelle behauptet, Fakten zu präsentieren. Er selbst habe keine wissenschaftliche Evidenz für Techniken wie Mind-Control oder die gezielte Aufspaltung der Persönlichkeit. Und wenn die Ergebnisse seiner Forschungsgruppe dennoch als Beleg für die Existenz ritueller Gewalt gelesen werden? »Dass Forschungsergebnisse missbraucht werden, lässt sich leider nicht verhindern.« (…)

In Deutschland sind Familien- und Justizministerium stolz, das Missbrauchsthema an höchster Stelle angesiedelt zu haben, in Gestalt des Amts des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Hier sollen die Versäumnisse der Vergangenheit kompetent und integer aufgearbeitet werden.

Seit April 2022 ist die Journalistin Kerstin Claus die neue Missbrauchsbeauftragte des Bundes. Im Dezember sitzt sie in einem Konferenzraum in Berlin und sagt: Weil den Opfern sexueller Gewalt so lange und so häufig nicht geglaubt worden sei, nehme das Amt des Missbrauchsbeauftragten die gegenteilige Haltung ein – »Parteilichkeit für die Anliegen von Betroffenen«. Claus sagt: »Wir setzen uns für Schutz und Hilfe ein.«

Claus sagt, sie habe die Medienberichte in der Schweiz verfolgt. »Mit Sorge« schaue sie »auf die in konkreten Fällen festgestellten Behandlungsfehler«.

Doch auch auf dem offiziellen Hilfeportal der Missbrauchsbeauftragten war bis vor Kurzem von einer Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit »in mehrere Identitäten« durch »planmäßig wiederholte Anwendung schwerer Gewalt« und von »Mind-Control-Methoden« zu lesen. Gefördert vom Bundesfamilienministerium ging im November 2022 die Website wissen-schafft-hilfe.org online. Untermauert von Forschungsergebnissen aus Hamburg war dort von »Programmierung« und von »Teil-Persönlichkeiten« die Rede, denen »bestimmte Sexual- oder Gewaltpraktiken antrainiert werden« könnten. Auch in Broschüren, die sich an Opfer ritueller Gewalt richten und vom Amt der Missbrauchsbeauftragten gefördert wurden, wird die Mind-Control-Theorie verbreitet.

Fragt man Claus, ob sie all das glaube, windet sie sich: »Einen Begriff wie Mind-Control würde ich nicht nutzen«, sagt sie. Aber sie halte es für unangemessen, »Erfahrungen von Betroffenen undifferenziert als Verschwörungstheorie einzuordnen«. Schließlich berichteten diese von gezielter psychischer Manipulation.

Der SPIEGEL hat einen der Autoren des Schweizer Untersuchungsberichts um eine Bewertung der Aussagen zu ritueller Gewalt gebeten, die auf Internetseiten der Missbrauchsbeauftragten auffindbar waren oder noch sind. Werner Strik, ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern, sagt, Informationen, die unter dem Dach der UBSKM vermittelt würden, erweckten unweigerlich den Anschein besonderer Seriosität. Doch was dort etwa über »Mind-Control« zu lesen sei, entbehre »jeglicher wissenschaftlicher Grundlage«.

Im Dezember in Berlin sagt Claus: »Der Ansatz meines Amtes ist nicht, grundsätzlich infrage zu stellen, sondern Bedarfe zu hören und sich für passende Angebote einzusetzen.« Wenige Tage nach ihrem Gespräch mit dem SPIEGEL ist der Begriff »Mind-Control« auf dem Hilfeportal nicht mehr zu finden. Auf der Webseite wissen-schafft-hilfe.org heißt es, diese sei zurzeit im Wartungsmodus. Ein UBSKM-Sprecher nennt als Grund einen »Serverwechsel«.

Die Erkenntnis des Spiegel-Artikels begrenzt sich auf das Thema ritueller Missbrauch. Aber das Grundproblem von Strukturen, die für hilfesuchende Patienten und unschuldig Beschuldigte schädlich sind, gibt es nicht nur bei rituellem Missbrauch, sondern auch bei sexuellem Missbrauch von Kindern.

Das analoge Problem im Bereich sexueller Missbrauch von Kindern

Sexueller Missbrauch gilt als so zerstörerisch, dass es für jedes Problem und jedes persönliche Versagen, jeden ausgebliebenen Erfolg, mit dem man hadert, mit einem Schlag eine vermeintlich überzeugende Erklärung gibt, die von persönlicher Verantwortung entlastet, Aufmerksamkeit und soziale Unterstützung sichert, einen verbesserten Zugang zu Behandlungsresourcen verspricht und zu Schadensersatz-, Anerkennungs- oder Ausgleichszahlungen führen kann.

Tatsächlich bleiben 40% der Betroffenen symptomlos. Sexuelle Handlungen sind für Kinder nicht per se giftig und auch tatsächliche sexuelle Übergriffe und Missbrauchstaten töten noch lange keine Kinderseelen ab.

Die Rede von „Seelenmord“ ist für Betroffene von sexuellem Missbrauch ebenso schädlich wie die Terminologie „Überlebende“, ein Begriff der ursprünglich für Überlebende von Konzentrationslagern reserviert war, von denen tatsächlich nur einige wenige einzelne je hundert oder tausend überlebt haben. Der Normalfall einer Internierung im Konzentrationslager war, dass man danach tot war. Der Normalfall, wenn man einen sexuellen Missbrauch erlitten hat, ist, dass man danach noch am Leben ist. Wenn es sich als einer der besten Schutzfaktoren bei sexuellen Übergriffen herauskristallisiert hat, zu Kontrollüberzeugungen zu gelangen und Optimismus beizubehalten, ist die Selbstkonzeption als „Überlebender“ kaum sinnvoll.

Wesentlich für eine Schädigung durch gleich welche Misshandlungsform ist der Schweregrad, die Intensität und die Dauerhaftigkeit der Belastung. Wer ständig angeschrien, schikaniert und herabgesetzt wird, hat dadurch eine furchtbare Belastung, die in der Regel auch nachwirkt. Wer ständig verprügelt wird ebenso. Wer ständig missbraucht wird auch. Wer als Kind irgendwann einmal angeschrien wurde oder irgendwann einmal eine Ohrfeige eingefangen hat, weil die Eltern die Nerven verloren haben, hat allein deshalb noch lange kein Trauma oder Behandlungsbedarf. Ebenso wenig ist das der Fall, wenn man als Kind irgendwann einmal aus sexuellen Motiven am Penis berührt wurde.

Wenn etwas aus eigener Perspektive im Grunde eher Unbedeutendes von Dritten auf monströse Dimensionen aufgeblasen wird und im Kopf des Betroffenen nachträglich diese monströse Dimensionen annimmt, ist das für den Betroffenen weit schädlicher als die ursprüngliche Handlung.

Wenn jemand wegen psychischer Probleme Hilfe sucht und der Therapeut mit der Ursachenforschung sofort aufhört, wenn irgend etwas Sexuelles in der kindlichen Vergangenheit entdeckt wird, dann ist die wahrscheinliche Folge eine Fehlbehandlung mit ausbleibendem Therapieerfolg, vielleicht aber sogar eine unbeabsichtigte Schädigung des Patienten indem ein zusätzliches Trauma erzeugt wird, das vorher schlicht nicht vorhanden war.

Neben „normal guten“ Therapeuten, die sich durch den Zeitgeist zum Schaden ihres Patienten auf eine falsche Fährte führen lassen, gibt es aber auch „Spezialisten“, die sehr an die Therapeuten von „rituellem Missbrauch“ erinnern.

Etwas abgewandelt:

Eine Vielzahl selbst ernannter Experten profitiert so von der Erzählung des Missbrauchs. Betroffene finden Anerkennung, indem sie Selbsthilfe-Netzwerke organisieren. Therapeuten können Patienten, die mit realem Leidensdruck in ihre Praxen kommen, zumindest einen scheinbaren Grund für deren Probleme liefern. Manche Helfer verlieren dabei offenbar die professionelle Distanz und halten alles für wahr, was sie hören. Manche überhöhen ihre eigene Rolle – sie behandeln nicht nur die schlimmsten Fälle, sie kennen auch geheimste Praktiken.

Wenn eine Therapie dazu führt, dass es dem Patienten schlechter geht statt besser, ist das ein klares Warnsignal. Vielen Patienten ergeht es so. Sie werden dann damit beruhigt, dass er normal sei, dass es ihnen „vorübergehend“ erst mal schlechter gehe.

Wenn man jemandem erst mühselig beibringen muss (wie es bei 65% der betroffenen dänischen Jungen aus Sicht mancher „Kinderschützer“ wohl nötig wäre), dass er geschädigt wurde, ist das aus meiner Sicht eine offensichtliche Fehlbehandlung.

In „Was aussieht wie Liebe, ist wahrscheinlich Liebe“ zitiere ich den Psychologen Martin Janning aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:

Eine Besonderheit gibt es noch, wenn es um pädophile Täterstrukturen geht: Die sexuelle Gewalt ist dort eingebunden in ein Fürsorgeverhalten. Da geht es oft um Kinder, die vorher schon einen großen Mangel an elterlicher Zuwendung erlebt haben. Dann kommt zum Beispiel ein Stiefvater und gibt dem Kind, was es eigentlich braucht: Liebe, Zuwendung und Zeit. Danach hat der Täter leichtes Spiel, das Kind zu manipulieren und seine Wahrnehmung zu beeinflussen. Er zeigt ihm einen Film mit einem Kind, das einen Mann befriedigt, und sagt ihm, das dürfe es auch mal machen, das sei aber ein Geheimnis. Das Kind ist völlig verwirrt, zweifelt an der eigenen Wahrnehmung. Es wird immer weiter desensibilisiert. Und schließlich geht die Initiative sogar vom Kind aus, um den Wünschen und Erwartungen des Täters zu entsprechen. Das verstärkt am Ende die Schuldgefühle des Kindes.

Die Behandlung sieht so aus:

Wir helfen dem Kind, eine Sprache zu finden, wie schrecklich es ist. (…) Damit sich ein Kind nicht mehr im Spiegel des Täters oder der Täterin definiert, benötigt es äußere und innere Distanz. Dafür braucht es Bedingungen, sich aus pathologischen Abhängigkeitsbeziehungen zu befreien.

Die Erwartung, dass das Kind einen sexuellen Kontakt furchtbar oder traumatisierend findet, ist aber eine Erwachsenen-Erwartung, die in das Kind hineingelegt wird.

Die klinischen Psychologen S. Burkhardt & A. Rotatori schreiben im Buch „Treatment and Prevention of Childhood Sexual Abuse: A Child-Generated Model“ hierzu:

Aufgrund der moralisch verwerflichen Natur des sexuellen Kindesmissbrauchs haben die Forscher die verständliche Tendenz, die Ängste, Ekel und Schrecken in das kindliche Opfer zu projizieren. (…) In dieser Erwachsenenposition wird die Sicht des Kindes kaum wahrgenommen.

Das Trauma entsteht, wenn dem Kind beigebracht wird, dass es – insbesondere sein Vertrauen – missbraucht wurde. Es wird zum Spiegel der Ängste, des Ekels und Schreckens des Erwachsenen, der ihn behandelt.

Selektive Blindheit

Der ehemalige FBI-Beamte Kenneth V. Lanning ist forensischer Kriminologie mit Spezialschwerpunkt Kindesmissbrauch. Zitat aus der von ihm verfassten, 2010 erschienenen fünften Edition von „Child Molesters: A Behavioral Analysis – For Professionals Investigating the Sexual Exploitation of Children“:

Diese Täter verführen Kinder auf die gleiche Weise wie Erwachsene einander verführen. Diese Technik ist kein großes Geheimnis. Zwischen zwei Erwachsenen oder zwei Teenagern wird sie gewöhnlich als Dating bezeichnet. Früher nannte man es Hofieren. Der Hauptunterschied liegt jedoch in der Diskrepanz zwischen der erwachsenen Autorität des Kindermissbrauchers und der Verletzlichkeit des kindlichen Opfers. (…) Da die Opfer von Beziehungsmissbrauch in der Regel behutsam verführt wurden und sich oft nicht bewusst sind, dass sie Opfer sind, kehren sie wiederholt und freiwillig zum Täter zurück. (..) Manche Opfer sind einfach bereit, Sex gegen Aufmerksamkeit, Zuneigung und Geschenke einzutauschen und glauben nicht, dass sie Opfer sind. Der Sex selbst kann sogar genossen werden. Der Täter behandelt sie vielleicht besser, als sie sonst jemals von jemandem behandelt wurden.

Dass es sich stets nur um Missbrauch handeln kann, ist in solchen Fällen eine dogmatische, ideologische Entscheidung aus „prinzipiellen“ Gründen, die mit den subjektiven und objektiven Interessen der Kinder nichts zu tun haben. Man sieht nicht, was man nicht sehen will.

Gerade weil ich aus prinzipiellen Gründen genital-sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern als Herrschaftsverhältnis ablehne, habe ich Schwierigkeiten, Erfahrungen einzuordnen, die für das Gegenteil einer Herrschaftssbeziehung zu stehen scheinen.

Günter Amendt, Nur die Sau rauslassen?
in: konkret. Sexualität, H. 2 (1980), S. 23–30, hier S. 23.

Man darf selbstverständlich parteilich für die Anliegen von Betroffenen sein. Es darf einen aber nicht blind machen. Vor allem muss man die Deutungshoheit bei den Betroffenen belassen und sollte ihnen nichts von außen aufstülpen.

Zum Schluss komme ich wieder zurück zu den Opfern emotionaler Gewalt und anderer Gewaltformen. Diese profitieren besonders von Personen, die ihnen einen Ausgleich bieten können. Jemand, der zugewandt ist und sich kümmert ist ein wichtiger prognostischer Faktor, der etwas darüber aussagt, ob sich ein Kind gut entwickelt oder schwierig wird:

„One caring person“. Das ist eine Person, idealerweise eine erwachsene, bei der das Kind das Gefühl hat, dieser Mensch interessiert sich für mich, diesem Menschen bin ich wirklich ein Anliegen. Das kann ein Elternteil sein oder ein Großelternteil, das kann jemand in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft sein, eine Tante oder ein Onkel. Es ist dabei überhaupt nicht wichtig, ob das ein Mann oder eine Frau ist.

Liebe, Zuwendung und Zeit, Fürsorgeverhalten, Sex, der genossen wird, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Geschenke. Das hört sich für mich nach etwas an, von dem man profitieren kann.

Ist die Prognose eines Kindes, das mit Belastungsfaktoren wie emotionaler Misshandlung, Vernachlässigung und/oder körperlichen Gewalterfahrungen zu kämpfen hat und zusätzlich „sexuelle Gewalt“ im Sinne von Fürsorgeverhalten, Liebe, Zuwendung, gutem Sex, Aufmerksamkeit und Zuneigung erfährt, besser oder schlechter als die eines Kindes, das nur emotionale Misshandlung, Vernachlässigung und/oder körperlichen Gewalterfahrungen erlebt?

Ist die „Sexuelle Gewalt“ in diesem Sinne wirklich eine Belastung oder ist die Beziehung zu einem zugewandten Menschen, mit dem man zugleich auch positive sexuelle Erlebnisse hat, etwas, das einem gut tut, das einen stärker macht und das externe Belastungssituation bewältigen hilft?

Es gibt inzwischen viele Studien zu belastenden Kindheitserfahrungen (ACE Studies – Adverse Childhood Experiences) in denen die späteren Folgen von Erfahrungen wie körperlicher Misshandlung, sexueller Missbrauch, emotionale Misshandlung, körperliche Vernachlässigung, emotionale Vernachlässigung, Kontakt mit häuslicher Gewalt, Suchtmittelmissbrauch im Haushalt, psychische Erkrankungen im Haushalt, Trennung oder Scheidung der Eltern, inhaftierte Haushaltsmitglieder usw. als Belastungsfaktoren von Kindern untersucht werden. Wie auch im Fall der Studie, die im Artikel von Tagesschau.de vorgestellt wurde, wirkt sich in der Regel emotionaler Missbrauch am negativsten aus. Sexueller Missbrauch liegt im Mittelfeld der Belastungsfaktoren.

In der Schublade „Sexueller Missbrauch“ liegen dabei aber stets alle sexuellen Kontakte, egal ob gewollt oder ungewollt, vom Kind als Missbrauch empfunden oder nicht. Würde man hier differenzieren und zwischen willentlich gewollten und ungewollten Kontakten unterscheiden, dann wäre zu erwarten, dass die Fälle mit ungewolltem Kontakt auf der Schädlichkeitsskala der Belastungsfaktoren relativ gesehen nach oben rutschen. Bei gewollten, also nicht als Missbrauch empfundenen Kontakten wäre das Gegenteil zu erwarten. Ich halte es sogar für durchaus möglich, dass sich herausstellen könnte, dass es sich tatsächlich gar nicht um belastende Kindheitserfahrungen handelt, sondern um stärkende (PACE – Positive Childhood Experience).

Der Wille, Studien so zu gestalten, dass sie diese Fragen klären können, fehlt. Man will es anscheinend lieber gar nicht so genau wissen. Das Kindeswohl ist nicht mehr ganz so wichtig, wenn es sich falsch anfühlt, eine bestimmte Fragestellung zu untersuchen. Womit wir wieder beim systematischen Versagen wären.

Ermüdungserscheinungen jenseits des Regenbogens

Kurz nachdem am 5. Januar 2022 mit dem Grünen-Politiker Sven Lehmann erstmals ein Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ernannt wurde, habe ich ihn angeschrieben.

ich wende mich an Sie in Ihrer Rolle als Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt.

Ich möchte Sie darum bitten, ihr Augenmerk auch auf eine Gruppe zu richten, die nicht zur Queer-Bewegung gehört, die aber sehr große Probleme mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hat. Gemeint ist die Gruppe hebephiler und pädophiler Menschen.

Es geht mir dabei in keiner Weise darum, Rechte auf Kosten anderer einfordern zu wollen. Die eigene sexuelle Selbstbestimmung endet immer da, wo die sexuelle Selbstbestimmung eines anderen Menschen beginnt. Das eigentliche Problem von Pädophilen und Hebephilen ist aber nicht, dass sie auf gelebte Sexualität mit einem Menschen ihrer sexuellen Präferenz verzichten müssen, sondern der blanke Hass aufgrund der Neigung an sich.

Mein Schreiben ging insgesamt über fast acht A4 Seiten – natürlich viel zu lang, weil ich es leider nicht anders hinbekomme, aber auch sehr gut belegt und so gut erklärt, wie ich es eben vermag. Beantwortet wurde es nicht.

Ich weiß auch, dass andere Aktivisten wie die Gruppe, die den Blog „Kinder im Herzen“ (KiH) veröffentlicht, Herrn Lehmann angeschrieben haben. Sie haben es geschafft sich dabei auf etwa zwei A4 Seiten zu beschränken. Aber auch sie haben trotz mehrfacher Nachfragen keine Antwort erhalten.

Vor einigen Tagen wurde nun das Werk des Beauftragten, der Aktionsplan „Queer leben“ für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt der Bundesregierung vorgestellt. Er wird als „deutliches Signal für die Anerkennung von Vielfalt“ gefeiert. Einleitend heißt es:

Alle Menschen sollen gleichberechtigt, frei, sicher und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben. Damit dies auch für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie andere queere Menschen (LSBTIQ*) möglich ist, sieht sich die Bundesregierung in der Verantwortung für eine aktive Politik gegen Diskriminierung und für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Um Queerfeindlichkeit entgegenzuwirken, verabschiedet die Bundesregierung folgenden bundesweiten Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Er enthält Empfehlungen für Maßnahmen in sechs Handlungsfeldern (Rechtliche Anerkennung, Teilhabe, Sicherheit, Gesundheit, Stärkung von Beratungs- und Communitystrukturen, Internationales).

Danach wird auf 14 Seiten das politische Programm der kommenden Jahre dargelegt. Zur Situation von Pädophilien und Hebephilen findet sich: nichts.

Alle Menschen sollen gleichberechtigt, frei, sicher und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben. Außer sie sind pädophil oder hebephil. Da tut man lieber nichts dafür, dass das Versprechen an alle Menschen für diese Menschen Realität wird. Es erinnert an die „Farm der Tiere“ von George Orwell:

Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher als die anderen.

Ein queerer Aktivist wie Jens Lehmann kann sich nicht auf Unwissenheit berufen. Er weiß, um was es geht, in einer milden Ausprägung auch aus eigener Anschauung. Was er nicht wissen kann, wurde ihm von verschiedenen Seiten erklärt. Es war ihm keine Antwort wert.

Zu ihrem eigenen Wohl werden von den LGBTQ+ Aktivisten alle Menschen unter dem Regenbogen versammelt, von wo aus sie dann die Akzeptanz und Solidarität für sich einfordern, die sie selbst anderen wider besseren Wissens verweigern.

Das Ganze ist erbärmlich und ermüdend.

Aktuell empört sich Deutschland über das Verbot der „One Love“ Kapitänsbinde bei der Fifa Weltmeisterschaft in Katar. Ich kann die Empörung nicht mitfühlen.

Das eigentliche Problem ist für mich ohnehin nicht, dass die sieben nationalen europäischen Verbände letztlich einen Rückzieher gemacht haben und die LGBTQ+ Kapitänsbinde nicht tragen werden, sondern dass es in ganz Europa überhaupt nur einen einzigen aktiven Profifußballer gibt, der sich getraut hat, sich als schwul zu outen: der 17-jährige Jake Daniel vom FC Blackpool in England hat sich im Mai 2022 geoutet.

Solange es in den Profiligen von Deutschland, Wales, Belgien, Dänemark, der Niederlande und der Schweiz keine gelebte Kultur gibt, die es einem Profispieler erlaubt hat, sich zu outen, wirkt es für mich heuchlerisch sich (im vermeintlich krassen Gegensatz zur Fifa) als ach so aufgeklärt und inklusiv präsentieren zu wollen. Gut scheinen wollen reicht nicht!

Im Spiegel erschien heute ein Interview mit Nas Mohamed aus Katar („Den Menschen ist nicht bewußt, welchr Hass uns uns in Katar entgegenschlägt“). Mohamed flüchtete sich 2015 in die USA, wo ihm seit 2017 aufgrund seiner sexuellen Orientierung Asyl gewährt wird. Er hat sich im Mai 2022 als erster Bürger von Katar als schwul geoutet.

Mein wenig mitfühlender erster Gedanke dazu war: Na und?

Es macht sich auch niemand bewusst, welcher Hass Menschen wie mir in Deutschland entgegenschlägt. Wohin könnte ich vor der Verfolgung wegen meiner sexuellen Orientierung flüchten? In welchem Land wäre es denkbar, dass ich mich outen könnte, ohne deshalb mit Belästigungen, Drohungen und körperlichen Angriffen rechnen zu müssen?

Wenn ich die Einzelheiten der geschilderten Verfolgungssituation in Katar objektiv bewerte, muss ich einräumen, dass sie über das, was man als Pädophiler oder Hebephiler in Deutschland erlebt, hinausgehen. Aber Nas Mohamed kann seit fünf Jahren unbehelligt in den USA leben und lieben. Das macht ihn aus meiner Sicht zu einem Privilegierten. Und auch die in Katar und vergleichbaren Staaten tatsächlich noch Verfolgten haben diese Perspektive. Für Menschen wie mich gibt es eine analoge Perspektive nicht.

Diejenigen, die selbst Diskriminierung oder sogar Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung aus erster Hand erfahren haben, kümmert meine Not nicht. Warum soll mich dann ihre Not kümmern?

Ausbleibende Hilfe verbittert irgendwann.

Umfrage zu den Gründen für den Abbruch einer Psychotherapie

Ich war als Jugendlicher und Heranwachsender einige Jahre suizidgefährdet.

Ursächlich waren Probleme, die im Zusammenhang mit meiner sexuellen Neigung standen, wie ein Verliebtsein aus der Ferne und ohne Hoffnung, die Ächtung von Pädophilie in der Gesellschaft und die Angst, die Menschen zu verlieren, die mich lieben, wenn sie erfahren, wer ich wirklich bin.

Ich habe in diesen Jahren keine Hilfe gesucht. Es wäre gut gewesen, wenn es damals Angebote für mich gegeben hätte, aber auch wenn es sie gegeben hätte, hätte ich die Angebote vermutlich nicht genutzt, wenn der Zugang nur mit der Auslieferung meiner Identität – und damit meines Schicksals – an einen Dritten möglich gewesen wäre.

Ich habe allerdings einmal einen Kontaktaufnahmeversuch gestartet. Damals war ich bereits nicht mehr suizidal, sondern „nur noch“ depressiv. Ich hatte die Adresse einer Beratungsstelle in einem Buch gefunden. Dort stand auch die zugehörige Telefonnummer, aber anrufen kam für mich nicht in Frage. Die Gefahr einer Identifizierbarkeit mit unkalkulierbaren Folgen war mir bei einem Anruf einfach zu groß. Also bin ich hingefahren. Die Beratungsstelle war in einer etwas weiter entfernten Großstadt. Als ich nach mehreren Stunden dort angekommen bin, musste ich feststellen, dass sie zu war. Sie war regulär (ohne Terminvereinbarung) nur zwei Tage in der Woche für ein paar Stunden geöffnet. Ich war am falschen Tag und zur falschen Uhrzeit dort. Ich bin also wieder nach Hause gefahren. Ich habe keinen zweiten Versuch unternommen. Etwas später habe ich dann allerdings Boychat entdeckt, eine englischsprachige Online-Community, die für mich als eine Art Selbsthilfegruppe funktioniert hat.

Mit der Neigung Pädophilie / Hebephilie sind sehr häufig erhebliche schädliche psychische Gesundheitswirkungen verbunden und entsprechend ist der Bedarf an psychologischer oder psychotherapeutischer Unterstützung riesig. Das Angebot ist demgegenüber völlig unzureichend.

Anfang Juli wurde ich von der Masterandin kontaktiert, die fragte, ob ich bereit wäre auf meinem Blog den Link zu einer wissenschaftlichen Studie zu teilen. Untersucht werden die Gründe für den Abbruch einer Psychotherapie bei Menschen mit Pädophilie und/oder Hebephilie.

Ich habe die Anfrage aufgrund meiner Vorurteile zunächst ignoriert, weil ich davon ausgegangen bin, dass es um Therapien im Sinne von „Kein Täter werden“ geht und sich die Studie auf die Psychotherapie zum Management von Pädophilen als Gefahr für Kinder konzentriert. So etwas wollte ich lieber nicht unterstützen, da es den Pädophilen und seiner Würde als Mensch nicht gerecht wird.

Durch eine Nachfrage der Wissenschaftlerin und einen Austausch mit ihr stellte sich dann allerdings heraus, dass ich vorschnell geurteilt hatte und es auch um allgemeine Psychotherapien geht, bei denen die Neigung thematisiert wurde und den Patienten z.B. im Umgang mit Stigmatisierung, Depressionen und suizidalen Gedanken geholfen werden soll.

Aufgrund dieser breiteren Ausrichtung haben sich meine Bedenken erledigt. Die Forschung kann vielleicht dazu beitragen, die therapeutischen Angebote zu verbessern. Das wäre sehr wichtig. Hier also der Aufruf zur Teilnahme an der Studie:

Sehr geehrte Besucher:innen dieses Blogs,

im Rahmen meiner Masterarbeit an der Technischen Universität Chemnitz suche ich Teilnehmer:innen für meine Studie, welche die individuellen Gründe für den Abbruch einer Psychotherapie bei Menschen, die sich als pädophil und/oder hebephil wahrnehmen, untersucht.

Dafür führe ich eine Online-Umfrage durch. Das Ziel ist es, individuelle Gründe und Umstände für einen Psychotherapieabbruch besser zu verstehen und Psychotherapieangebote auf die Bedürfnisse der Betroffenen anzupassen, um ihnen besser helfen zu können.

Teilnehmen können alle über 18-jährigen Personen, die sich selbst als pädophil und/oder hebephil einschätzen und die schon einmal eine Psychotherapie, in der ihre sexuelle Präferenz thematisiert wurde, vorzeitig abgebrochen haben. Auch teilnehmen können Personen, bei denen diese Psychotherapie durch den oder die Therapeut:in vorzeitig abgebrochen wurde.

Ihr individuelles Feedback zu den Gründen für Psychotherapieabbrüche ist für Forschung und Praxis höchst wertvoll und daher würde ich mich freuen, wenn Sie an der Umfrage teilnehmen würden. Über diesen Link gelangen Sie zu der selbstverständlich anonymen Umfrage:

https://limes.phil.tu-chemnitz.de/index.php?r=survey/index&sid=254751&lang=de

Vielen Dank und freundliche Grüße

Antonia Martin

Die Umfrage ist zur Zeit geöffnet und endet voraussichtlich am 25. September 2022.

Update 07.10.22 : die Umfrage wurde auf unbestimmte Zeit verlängert.

„Der Zehnjährige, der seinen Lehrer verführte“

So lautet tatsächlich der Titel einer Filmbesprechung im Schweizer Tagesanzeiger.

Der Film „Petite nature“ (Alternativtitel: „Softie“) ist autobiographisch und erzählt von der Kindheit des Regisseurs Samuel Theis, der 2014 in Cannes mit seinem Erstlingswerk „Party Girl“ die Goldene Kamera gewann.

Hier die besagte Filmbesprechung:

Der Zehnjährige, der seinen Lehrer verführte

Der französische Regisseur Samuel Theis macht die eigene Familie zum Thema – für seinen neuen Film musste er einen Buben finden, der heikle Szenen spielt.

Der Knabe zieht sich aus, Shirt, Hose, langsam und lasziv. Sein Lehrer, in dessen Wohnung sich die Szene abspielt, will ihn stoppen. Doch der Schüler lässt sich nicht abhalten. Er ist zehn Jahre alt.

Natürlich ist das eine heikle Szene. Das weiss auch Samuel Theis, der sie für seinen Film «Petite nature» erfunden hat. Erfunden? «Der Film basiert, wie alles, was ich tue, auf meinen eigenen Erinnerungen», sagt der 43-Jährige.

Die Mutter war das «Party Girl»

Samuel Theis wurde mit «Party Girl» bekannt. Im Zentrum des Films stand seine Mutter, die an der deutsch-französischen Grenze in einem Cabaret als Animierdame arbeitete und eines Tages beschloss, zu heiraten. Gespielt wurde sie nicht etwa von einer Schauspielerin, die richtige Mama trat selbst auf, genau wie die übrigen Mitglieder der Familie. Der Film wurde 2014 zum Überraschungserfolg in Cannes und gewann zahlreiche Preise.

Die Mutter kommt jetzt in «Petite nature» wieder vor. Allerdings in einer viel jüngeren Version, gespielt wird sie von Mélissa Olexa, die der Regisseur in einem Supermarkt entdeckt hat. Und das Alter Ego des Regisseurs heisst Johnny und ist zehn Jahre alt. Die Familie führt ein turbulentes Leben, sobald die Mama von einem Lover rausgeschmissen wird, zieht sie mit Sack und Pack, drei Kindern und zwei Goldfischen wieder um.

«Das alles ist von meiner Kindheit inspiriert. Aber ich habe mir mehr Freiheiten genommen als beim ersten Mal», sagt Samuel Theis. Er habe vermeiden wollen, einen nostalgischen Film über die 80er-Jahre zu drehen. «Petite nature» spielt im Nordwesten Frankreichs, in der heutigen Zeit. Dazu musste der Regisseur eine zeitgemässe Version seiner selbst finden. Aber nicht nur das. Gefragt waren auch Eltern, die einwilligten, ihren Sohn heikle Szenen spielen zu lassen.

Aliocha Reinert heisst der junge Mann mit dem Engelsgesicht. Er ist phänomenal: Manchmal noch ein Kleinkind, wenn er sich an die Mama kuschelt im Bett. Dann ein Pubertierender, wenn er einen Wutausbruch hat, weil sich die Familie keine richtige Cola leisten kann. Und plötzlich ein blonder Verführer, der imitiert, was er bei den Erwachsenen gesehen hat. Und so den Lehrer, gespielt von einem Profi, aus der Fassung bringt.

AC/DC waren dann doch zu teuer

Diese Geschichte ist ein Balanceakt, sie könnte immer die schlimmstmögliche Wendung nehmen. Aber sie bleibt wundersam fragil und nüchtern. Ohne je banal zu erscheinen.

Nur am Ende scheint sich der Regisseur einen kleinen Anflug von Nostalgie zu gönnen. Der Zehnjährige tanzt zu einem Rockklassiker. Aber Samuel Theis widerspricht: Er habe dem Knaben gesagt, er solle ein Stück mitbringen, zu dem er gern tanzen würde. Dieser sei zu seinem Erstaunen nicht mit aktueller Musik aufgekreuzt, sondern habe «Thunderstruck» mitgebracht. 

Das habe sich die Filmproduktion nicht leisten können, Musik von AC/DC kostet 60’000 Euro pro Minute. Deshalb erklingt jetzt das etwas preiswertere «Child in Time» von Deep Purple. Ein perfekter Abschluss für einen packenden Film.

Samuel Theis scheint schwul oder bisexuell zu sein. Sein Film wird auch als schwuler Coming-of-age film besprochen. Es geht ihm mit dem Film aber nicht um sexuelles Erwachen, sondern um ein intellektuelles Erwachen. In einem Interview äußert er sich wie folgt (eigene Übersetzung):

Cineuropa: Was war Ihre Motivation für Softie : einen weiteren Film in Forbach, Ihrer Heimatstadt, über eine soziale Schicht zu drehen, die Sie bestens kennen, oder das Porträt eines Jungen an der Grenze zwischen Kindheit und Jugend?

Samuel Theis: Dass dies in Forbach gedreht wird, war für mich klar, weil das Porträtieren dieses Kindes auch eine Möglichkeit ist, Erinnerungen an ein selbst erlebtes Erlebnis aufzufrischen und ein Alter darzustellen, das ich für das Kino hochinteressant finde, weil es wirklich die Schwelle zum Teenageralter ist. Fiilmaufnahmen in Frankreich mit einem Kind zu planen ist komplex, weil das Gesetz vorschreibt, dass wir nur vier Stunden pro Tag drehen dürfen. Aber ich wollte über dieses Alter sprechen und über die Erkenntnis, die ich mit 10 hatte, von der Gewalt meiner sozialen Herkunft und von dem tiefen inneren Wissen, dass ich mein Leben dort nicht verbringen würde, dass ich gehen würde und dass ich daher meiner Familie den Rücken kehren würde. In diesem Alter ist es eine Herausforderung, das zu verstehen! Dieser Film ist das Porträt eines Kindes, aber vor allem geht es um die Frage der Abkehr von der eigenen Klasse.

Die Figur des Johnny, mitten in einem Lebensabschnitt, in dem es um das Erwachen, das Verlangen und die Neugier geht, trifft mit seinem Lehrer einen Meister. Welche Art von Blick wollten Sie auf die Bildung werfen?

Er repräsentiert die Figur des Mentors. Wir alle haben Meister, eine Person, auf die wir projizieren wollen. Das geschieht immer dann, wenn der Erwachsene zuerst einen Blick auf das Kind wirft, den Blick von jemandem, der an uns glaubt, der unser Potenzial sieht und es zeigt. Diese Begegnungen sind entscheidend, vor allem auf dem Weg des sozialen Übertritts. Bildung als Institution ist bedenklich, denn ich weiß nicht, ob das, was wir Chancengleichheit nennen, tatsächlich existiert, aber für mich war es die Schule, die mich durchgebracht hat. Das Ganze ist ambivalent, komplex, nuanciert.

Dieses Verlangen, diese Neugierde, ist auch ein eher verschwommenes Verlangen nach Liebe, das seine Grenzen hat. Sie zögern in der Tat nicht, das recht heikle Thema des sexuellen Erwachens anzusprechen.

Einen Film über ein Kind zu machen, bedeutet, einen Film über Anfänge zu machen, und ich wollte mich nicht mit dem intellektuellen Erwachen begnügen. Ich stütze mich auf eine persönliche Erfahrung und ich glaube nicht, dass der Film die Sexualität mit 10 Jahren thematisiert, und natürlich ist es von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Das waren Umwälzungen in meinem Kopf, und es hat lange gedauert, bis ich sie entschlüsselt hatte. Mein Wunsch war es zu zeigen, dass das Begehren, was auch immer es sein mag, immer vielfältig ist, dass verschiedene Realitäten und Wahrnehmungen miteinander kommunizieren. Denn woraus besteht unser sexuelles Begehren? Es ist nicht nur die Chemie zwischen zwei Menschen, es gibt auch eine intellektuelle Komponente und eine mentale Konstruktion. Ich habe oft Menschen begehrt, die mir helfen konnten, sozial aufzusteigen. Aber es war mir sehr wichtig, dass die Erwachsenen in dem Film in diesen Fragen untadelig sind. Das Kind ist ein Entdecker, und in diesem Alter müssen wir nach unseren Grenzen suchen und experimentieren. Ein Kind geht immer zu weit. Vielleicht war es eine Möglichkeit, erzählerisch alle wieder auf den richtigen Weg zu bringen.

Die Filmrezension des queeren Webmagazins LGBT Bern berichtet über den Film folgendes:

«Petite nature»

Der sensible 10-jährige Johnny kümmert sich um seine kleine Schwester und wird von seiner alkoholkranken Mutter mal gelobt, mal geschlagen. Als ein neuer Lehrer die Klasse von Johnny übernimmt, erkennt dieser sein Potential und beginnt ihn zu fördern. Der Junge entwickelt jedoch zu ihm eine Zuneigung, die bald die Grenzen des Erlaubten sprengt. Ergreifend erzählt Regisseur Samuel Theis in seinem neuen Film «Petite nature» von der komplexen Erfahrungswelt eines empfindsamen und zugleich unglaublich mutigen Kindes. Ab dem 7. April läuft er in den Deutschschweizer Kinos. Hermann Kocher hat ihn bereits gesehen. Seine Filmbesprechung:

Der 10-jährige Blondschopf Johnny ragt heraus: Er scheint weder zu seiner taffen, aber zuweilen völlig überforderten Mutter Sonia, noch in die Sozialsiedlung im Nordosten Frankreichs zu passen, in die sie kürzlich umgezogen sind. Mit neugierigem Blick geht der sensible Junge durch die Welt und interessiert sich für Dinge weit über seinem Altershorizont. Als der neue Lehrer Jean die Klasse von Johnny übernimmt, erkennt endlich jemand dessen Potential und beginnt ihn zu fördern. Der Junge fühlt sich bei Jean allerdings so gut aufgehoben, dass seine Zuneigung die Grenzen des Erlaubten schon sehr bald sprengt.

Der Film beginnt mit einem Umzug: Zu Fuss macht sich die Familie des zehnjährigen Jonny «mit Sack und Pack» – im wahrsten Sinne des Wortes –  auf den Weg zu einer neuen Wohnung. Vermutlich einmal mehr hat eine Beziehung der Mutter im Chaos geendet. Eine Unterkunft wird in einer Hochhaussiedlung am Rande der lothringischen Kleinstadt Forbach gefunden. Der sensible, mit seinen blonden langen Haaren engelhaft wirkende Johnny passt nicht in das dortige raue Klima. Genauso wenig findet er Halt und Anerkennung im sozial instabilen Milieu seiner Familie. Seine Mutter (der Vater ist abhanden gekommen) sendet widersprüchliche Signale aus. Einmal ist ihr Sohn eine Wucht und ihr Engel, ein anderes Mal schlägt sie ihn. Johnny muss wegen der alkoholischen Exzesse der Mutter Aufgaben übernehmen, die nicht für einen Zehnjährigen gedacht sind. Er betreut die kleine Schwester, macht der Mutter die Haare oder massiert ihr die Beine.

Johnnys Leben nimmt bereits am ersten Schultag am neuen Ort eine unerwartete Wende. Jean Adamsky, sein Lehrer, fragt die Kinder, wo sie sich in zwanzig Jahren sähen. Johnny ist perplex ob dieser Frage und stammelt nur, er werde sich dann wohl um seine kleine Schwester kümmern. Immer mehr gelingt es Jean, Johnny aus der Reserve zu locken. «Glaub an dich!», so lautet sein Appell. Er eröffnet ihm einen Weg zur Poesie, zur Kunst, lässt ihn an seinem privaten Leben teilhaben und zeigt ihm Perspektiven auf. Johnny, an der Grenze zur Pubertät, entwickelt dabei Gefühle für seinen Lehrer, die über eine stille Schwärmerei hinausgehen. Jean, der um seinen Job bangt, ist gezwungen, lautstark Grenzen zu ziehen. Und Johnny muss sich überlegen, was das für ihn und seine Zukunft bedeutet.

Regisseur Samuel Theis hat mit «Petite nature» nach seinem Erstlingswerk «Party girl» (2014) einen überzeugenden zweiten Film vorgelegt, der nach seinen Aussagen viele autobiographische Züge trägt. Die Erzählstruktur ist linear, und doch ist der Film vielschichtig.

Er kann gesehen werden als grossartig inszenierte, aufrüttelnde Milieustudie in einem sozial benachteiligten Umfeld. Der Regisseur hat in einem Interview den Aspekt «Gefühl der sozialen Scham» herausgestrichen, mit dem er selber lange gekämpft habe und das ihn vielleicht zum Filmemacher werden liess. Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Film als Emanzipationsgeschichte, als Coming-of-age-Studie des heranwachsenden Johnny zu lesen. Johnny und der Prozess, den dieser durchläuft, werden von Aliocha Reinert mit einer Natürlichkeit und einem Einfühlungsvermögen verkörpert, die grosse Bewunderung hervorrufen. Der facettenreichen Persönlichkeit des Jugendlichen wird der Titel «Softie», unter dem der Film zum Teil lanciert wurde, nicht gerecht. Ein anderer Blick könnte auf die pädagogischen Leistungen Jeans gerichtet werden, einem begnadeten Lehrer, wie man sich wünscht, sie öfters erlebt zu haben.

Am meisten zu diskutieren wird jedoch wohl die Frage geben, was es für einen Lehrer bedeuten kann, mit dem sexuellen Erwachen von anvertrauten Jugendlichen umzugehen. Die im Rahmen von Missbrauchsfällen geführten emotionalen Erörterungen sind hier insofern brisant, als die Avancen nicht vom Lehrer, sondern vom Jugendlichen ausgehen. Ob es dabei um Sexualität im engeren Sinne geht oder einfach darum, auch den Körper dafür einzusetzen, um Zuneigung und Anerkennung zu gewinnen – wie Johnny es bei seiner Mutter erlebt –, ist offen. Für den Lehrer bleibt die Herausforderung, damit umzugehen, dass, wie er sagt, in jeder Klasse ein oder zwei Jugendliche sind, die ihn mehr berühren als andere. Wie viel Nähe, wie viel Distanz braucht es, damit emotionale, soziale oder intellektuelle Entwicklung geschehen kann? Jean gelingt es, die hier notwendigen Grenzen zu ziehen und vielleicht gerade so Johnny die Chance zu geben, sich aus Abhängigkeiten zu lösen und auf eigenen Beinen zu stehen.

Der 10-jährige Johnny wurde vom zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen 11-järigen (heute 14-jährigen) Aliocha Reinert gespielt. Hier ein paar Bilder und der Trailer:

Geteilt via filmstarts.de
Geteilt via filmstarts.de
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Der französische Filmtrailer:

Ich finde es extrem bemerkenswert – und ermutigend ! -, dass ein Film wie dieser heute existieren darf.

Ein Zehnjähriger, der seinen Lehrer verführt, passt so gar nicht zu den gängigen gesellschaftlichen Dogmen. Prof. Klaus Michael Beier vom Projekt „Kein Täter werden“ behauptete z.B. 2007 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung allen Ernstes „Kein Kind möchte Sex mit Erwachsenen haben.“ Das ist sachlich schlicht falsch und Wunschdenken, von jemandem, der es eigentlich besser wissen muss, ist es vielleicht sogar bewusste Täuschung. Über Wahrscheinlichkeiten kann ich keine Aussagen treffen aber die denklogische Unmöglichkeit, als die es gerne hingestellt wird, ist es mitnichten.

Obwohl es sich um ein sehr starkes Tabu handelt, blitzt die in der Realität anzutreffende Möglichkeit in öffentlichen Quellen manchmal auf, z.B. in einem TAZ Artikel („Mein pädophiler Onkel: Bestraft und nicht geläutert„), in dem der Autor ein hartes Urteil über seinen pädophilen Onkel fällt. Er berichtet aber auch:

Der Besuch bei meinem Onkel hat mich viel über meine eigene Sexualität nachdenken lassen. Ich bin schwul und habe schon mit 12 oder 13 Jahren begonnen, mich für Männer zu interessieren. Was hätte ich getan, wenn der Bekannte meines Stiefvaters, dessen Oberarme ich mir gerne anschaute, oder der Vater einer Freundin, an dessen Brustbehaarung ich dachte, wenn ich mich selbst befriedigte, Sex mit mir hätte haben wollen? Ich glaube nicht, dass ich Nein gesagt hätte.

Den Tabu-Status erkennt man auch deutlich an einigen Verbiegungen in der zuletzt zitierten Rezension. Das Kind, das seinen Lehrer verführt, löst dort so viel kognitive Dissonanz aus, dass es auf einmal zum Jugendlichen erklärt wird – weil der sexuelle Wunsch eines Kindes etwas Undenkbares, Unmögliches ist, ganz besonders dann, wenn er sich auf eine erwachsene Person richtet. Nochmal (verkürzt) die entsprechenden Stellen der Rezension bei LGBT Bern:

Der sensible 10-jährige Johnny kümmert sich um seine kleine Schwester und wird von seiner alkoholkranken Mutter mal gelobt, mal geschlagen. Als ein neuer Lehrer die Klasse von Johnny übernimmt, erkennt dieser sein Potential und beginnt ihn zu fördern. Der Junge entwickelt jedoch zu ihm eine Zuneigung, die bald die Grenzen des Erlaubten sprengt. Ergreifend erzählt Regisseur Samuel Theis in seinem neuen Film «Petite nature» von der komplexen Erfahrungswelt eines empfindsamen und zugleich unglaublich mutigen Kindes. (…) Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Film als Emanzipationsgeschichte, als Coming-of-age-Studie des heranwachsenden Johnny zu lesen. Johnny und der Prozess, den dieser durchläuft, werden von Aliocha Reinert mit einer Natürlichkeit und einem Einfühlungsvermögen verkörpert, die grosse Bewunderung hervorrufen. Der facettenreichen Persönlichkeit des Jugendlichen wird der Titel «Softie», unter dem der Film zum Teil lanciert wurde, nicht gerecht. Ein anderer Blick könnte auf die pädagogischen Leistungen Jeans gerichtet werden, einem begnadeten Lehrer, wie man sich wünscht, sie öfters erlebt zu haben. Am meisten zu diskutieren wird jedoch wohl die Frage geben, was es für einen Lehrer bedeuten kann, mit dem sexuellen Erwachen von anvertrauten Jugendlichen umzugehen.

Die Beschreibung eines 10-jährungen als „Jugendlichen“ ist verlogen aber hier wohl eher nicht im böswilligen Sinne einer Täuschungsabsicht, sondern als Ausdruck eines psychologisch bedingten, realitätsverzerrenden Passendmachens zum Weltbild. Es erinnert mich an die Darstellung von 13-jährigen als „junge Männer“ in manchen Boulevardzeitungen, wenn die Kinder ein Verbrechen begangen haben oder die Darstellung von 15/16-jährigen als Kinder, wenn sie Opfer einer Tat geworden sind. Wer den Wunsch nach Sexualität hat, muss – so das falsche, aber dogmatisch für wahr erklärte Bild, das man sich von der Wirklichkeit macht – mindestens Jugendlicher sein. Umgekehrt muss, wer Täter wird, mindestens Jugendlicher, wenn nicht erwachsen sein, denn Täter-sein passt nicht zur Idee kindlicher Unschuld.

Damit ist aber niemandem geholfen. Die Realität stellt uns vor Herausforderungen. Wie gehen wir mit Kindern um, die Täter werden? Wie gehen wir mit Kindern um, die sexuell aktiv sind und die sogar eine Anziehungen zu Erwachsenen haben können? Für Herausforderungen, die man partout nicht sehen will, kann man keine angemessenen Lösung finden, die den Situationen und den Menschen gerecht werden.

Es handelt sich um schädliche kognitive Verzerrungen, wenn man aufgrund eines kulturell-dogmatischen Filters nicht erkennt, dass Kinder auch aggressiv und rücksichtslos sein können und in diesem Sinne einem anderen Menschen gegenüber zum Täter werden können (z.B. Schummeln/Lügen/Betrügen; Wegnehmen/Stehlen; Schubsen/Treten/Beißen/Körperverletzung) oder dass sie sexuelle Wesen sind und sich auch Sexualität wünschen können. Wer die Realität leugnet, findet für reale Probleme schlechtere Lösungen.

Einer der Punkte, der mich am Filmprojekt besonders erstaunt hat, ist, dass nicht am autobiographisch korrekten Alter der Hauptperson herumgedoktert wurde. Basierend auf der Beschreibung wäre der Film bereits sehr gewagt, wenn die Hauptperson nicht 10, sondern 12 wäre. Normalerweise hätte ich eine Verfälschung des Alters auf mindestens 13, eher noch auf 14 Jahre erwartet, um die Geschichte akzeptabel zu machen. Es war dem Regisseur offensichtlich wichtig genug, eine authentische Geschichte zu erzählen und vermutlich hat ihm der Erfolg seines Erstlingswerks auch geholfen, den Mut für diese Authentizität zu finden.

Ebenso bemerkenswert ist für mich die Darstellung des Lehrers:

Er repräsentiert die Mentorfigur. Wir alle haben Meister, eine Person, auf die wir projizieren wollen. Das passiert immer dann, wenn der Erwachsene zuerst einen Blick auf das Kind wirft, den Blick von jemandem, der an uns glaubt, der unser Potenzial sieht und es offenbart. Diese Begegnungen sind entscheidend, besonders auf Reisen des sozialen Klassenabfalls. (…) Mein Wunsch war es zu zeigen, dass Verlangen, was auch immer es sein mag, immer vielfältig ist, dass verschiedene Realitäten und Wahrnehmungen miteinander kommunizieren. Denn woraus besteht unser sexuelles Verlangen? Es ist nicht nur die Chemie zwischen zwei Menschen, es gibt auch eine intellektuelle Komponente und eine mentale Konstruktion. Ich habe mir oft Menschen gewünscht, die mir helfen könnten, sozial aufzusteigen. Aber es war mir sehr wichtig, dass die Erwachsenen im Film in diesen Fragen tadellos sind.

Der Regisseur über seinen Film

Die Einordnung des Regisseurs verdeutlicht eine wichtige Antwort auf die Frage, wie vom Jungen gewollte sexuelle Beziehungen zu einem Mann überhaupt zustande kommen können.

Ich habe vor einiger Zeit eine interessante Passage aus einem Interview mit einem Päderasten gefunden, das 1996 entstand. Zu einer Veröffentlichung kam es nicht. Mutmaßlich lag es an den damals entdeckten Verbrechen von Marc Dutroux, der in den Medien fälschlich als pädophil dargestellt wurde aber tatsächlich nach einhelligem Befund von vier Gutachtern ein gewalttätiger, empfindungsloser, heterosexueller Psychopath war. Hier die relevante Passage:

Das hört sich ein bisschen an, als ob es richtige Freundschaften zwischen Männern und Knaben gibt. Reden Sie sich das nur ein, um Ihre Aktivitäten zu rechtfertigen?

Nein. Sehen Sie, Knaben verteilen ihre Sympathien recht egoistisch. Wenn ein Mann sich um sie bemüht, versucht ihnen zu gefallen, so merken sie das natürlich. Ihnen gefällt das Besondere an dieser Beziehung. Sie registrieren sehr genau den Vorteil der Unverbindlichkeit. Das heißt, dass er sich z.B. bei den Schulaufgaben helfen lassen kann, ohne Rechenschaft über den Erfolg ablegen zu müssen. Er merkt, dass der Mann ihn akzeptieren muss, wie er ist, dass er die Hauptperson ist und dass man sich jedes Mal über sein Erscheinen freut. Der Päderast kann den Jungen zwar in allen möglichen Dingen beraten und ihm einige Wege ebnen, er wird ihn aber nicht für ein Fehlverhalten strafen. All diese Dinge manchen diese „Extrawelt“ für den kleinen Mann durchaus schützenswert und er wird, solange er nicht das Gefühl vermittelt bekommt, dass der Sex eine Bezahlung für diese Annehmlichkeiten ist, keinem davon erzählen. Denn er weiß natürlich, dass die Außenwelt diese Beziehung niemals tolerieren würde. Kinder haben – im Gegensatz zu Erwachsenen – die Gabe, Beziehungen zu rationalisieren. Das heißt, dass der Wert einer Bindung zu einem anderen Menschen sich nicht durch das auszeichnet, was in der Erwachsenenwelt pauschal als Liebe definiert wird. Dieses Gefühl und die damit verbundene Außerkraftsetzung der objektiven Situationsbewertung ist Kindern fremd. Die Kriterien, die einen Jungen veranlassen, sich an einen Erwachsenen zu binden oder auch nicht, sind sehr praktischer Natur. Da sind Musik, der Sport, die Technik, die Bereitschaft zum Spielen, und auch ästhetische Gesichtspunkte wie Aussehen, Lebensart oder Aussprache. Dinge, die durchaus kritisch beleuchtet und berechnend in die Waagschale gelegt werden. Sie sind ständig damit beschäftigt, die Menschen ihres sozialen Umfelds miteinander zu vergleichen und für sich zu bewerten. Und soviel ist sicher: Eltern haben bei dieser Bewertung keinen Bonus zu erwarten, nur weil sie Eltern sind. Diese gehen in der Regel davon aus, dass sie von ihrem Kind aufgrund einer (um es salopp zu sagen) genetischen Programmierung geliebt werden, und die Erwartungshaltung ist entsprechend groß. Das funktioniert aber nur solange, wie das Kind keine Vergleichsmöglichkeiten hat. Die Bindung an eine andere Person kann aber durchaus fester und intensiver sein, wenn das Kind sein soziales Umfeld kennenlernt und der besagte Vergleichsmechanismus in Gang kommt. So etwas wie „Treue aus Tradition“ darf von Kindern nicht erwartet werden. Sie können eine Beziehung von einer Minute auf die andere abbrechen, ohne dass sie damit das geringste Problem haben. Und sie können durchaus mehrere Beziehungen gleichzeitig am Laufen halten. Aber wenn eine Beziehung gegen den Willen getrennt wird, sei es, dass es durch Scheidung den Vater verliert oder eine andere wichtige Bezugsperson nicht mehr erreichbar ist, dann ist das für das Kind die Katastrophe. Wenn die Person, an die sich der Junge bindet, ein pädophiler Päderast ist, so schaukelt sich die Intensität dieser Beziehung fast eigendynamisch hoch. Der Mann versucht, sich den Interessen des Knaben anzupassen, und dieser wiederum entdeckt immer neue positive Seiten an dem Erwachsenen. Ehe es zu ersten Annäherungen sexueller Natur kommt, vergehen meist Monate oder gar Jahre. Wenn es aber soweit ist, hat die Bindung längst den Status einer von beiden Seiten unterschiedlich erlebten, aber auch akzeptierten Bereitschaft zur körperlichen Nähe erreicht.

Es wird angenommen, dass die Sexualität der dominierende Faktor in den Beziehungen zu Knaben ist. Das ist falsch und entsteht aus der Ansicht, dass ein Päderast nichts als den Sex im Kopf hat, wenn er mit Knaben verkehrt. Diese Meinung wiederum ist ein Produkt der Unwissenheit und der falschen Informationen, wenn es um dieses Thema geht. Man hat einfach Angst davor, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen, um über dieses Thema zu reden und falsche Vorstellungen grade zu rücken. Wenn ich sage alle, dann meine ich auch die Kinder. Man weiß genau, dass viele Knaben sich eindeutig für die Tolerierung dieser Beziehungen aussprechen würden, auch wenn Sex im Spiel ist. Aber dann wäre unsere ohnehin ratlose Gesellschaft noch unsicherer, weil sie dann entweder akzeptieren müsste, dass diese Freundschaften ein völlig normales menschliches Verhalten sind, oder sie müssten die Kinder für nicht zuständig, unmündig und nicht urteilsfähig befinden. (…) Wenn es Problem in der Schule gibt, reden sie mit mir und nicht mit ihren Eltern darüber. Sie merken, dass ich auf ihr Wesen eingehen kann, weil ich ihr Denken und Fühlen nachvollziehe. Aber nicht weil ich ein guter Psychologe bin, sondern weil mir diese Knaben etwas bedeuten. Weil ich sie als gleichwertig ansehe. Wie üben zusammen oder quatschen einfach über Gott und die Welt. (…) Ich versuche ihnen zu gefallen und sie quittieren es damit, dass sie es auch versuchen. Das merkt man an ihrem Benehmen mir gegenüber. Sie wissen, dass ich Frechheiten oder unehrliches Verhalten nie dulden würde , solange sie bei uns zu Gast sind. Jungen, die in der Schule oder zu Hause nichts als Schwierigkeiten machen, zeigen hier ganz andere Seiten.

Beim Regisseur, der ja einen wichtigen Abschnitt seiner Kindheit autobiographisch verfilmt hat, kam auch eine körperliche Anziehung hinzu, in der sich die homosexuelle Neigung, die bereits vorhanden war, manifestiert hat. Vor allem hat Samuel Theis, als er 10 war, in seinem Lehrer aber jemanden erkannt, der ihn weiter bringen kann. Er hatte auf einmal eine Vergleichsmöglichkeiten zu seiner Familiensituation. Und entschied, sich auf die Reise zu machen, um seine bisherige Welt zu verlassen und eine neue zu gewinnen, auch wenn er dafür seiner Familie den Rücken kehren muss. Dies ist das intellektuelle Erwachen, um das es ihm als Regisseur bei der Verfilmung dieses Abschnitts seines Lebens ging. Der Mann, an den er sich gebunden hat, war ein Mentor. Jemand, der dem Jungen etwas geben, ihn weiterbringen wollte und dazu auch in der Lage war.

Ein in meinem Blog schon oft in die Waagschale geworfenes Zitat:

(Ein ganz wichtiger prognostischer Faktor, der etwas darüber aussagt, ob sein ein Kind gut entwickelt oder schwierig wird ist) „One caring person“. Das ist eine Person, idealerweise eine erwachsene, bei der das Kind das Gefühl hat, dieser Mensch interessiert sich für mich, diesem Menschen bin ich wirklich ein Anliegen. Das kann ein Elternteil sein oder ein Großelternteil, das kann jemand in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft sein, eine Tante oder ein Onkel. Es ist dabei überhaupt nicht wichtig, ob das ein Mann oder eine Frau ist.

Interview mit dem Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer

Dies spiegelt sich im Blick des Regisseurs auf Mentoren:

Wir alle haben Meister, eine Person, auf die wir projizieren wollen. Das geschieht immer dann, wenn der Erwachsene zuerst einen Blick auf das Kind wirft, den Blick von jemandem, der an uns glaubt, der unser Potenzial sieht und es zeigt. Diese Begegnungen sind entscheidend, vor allem auf dem Weg des sozialen Übertritts.

Auch die sexuelle Komponente wird von Samuel Theis nicht dämonisiert:

Mein Wunsch war es zu zeigen, dass Verlangen, was auch immer es sein mag, immer vielfältig ist, dass verschiedene Realitäten und Wahrnehmungen miteinander kommunizieren. Denn woraus besteht unser sexuelles Verlangen? Es ist nicht nur die Chemie zwischen zwei Menschen, es gibt auch eine intellektuelle Komponente und eine mentale Konstruktion. Ich habe mir oft Menschen gewünscht, die mir helfen könnten, sozial aufzusteigen.

Dann allerdings kommt dieser Satz des Regisseurs:

Aber es war mir sehr wichtig, dass die Erwachsenen im Film in diesen Fragen tadellos sind.

Auch LGBT Bern greift diesen Aspekt in der Filmrezension auf:

Für den Lehrer bleibt die Herausforderung, damit umzugehen, dass, wie er sagt, in jeder Klasse ein oder zwei Jugendliche sind, die ihn mehr berühren als andere. Wie viel Nähe, wie viel Distanz braucht es, damit emotionale, soziale oder intellektuelle Entwicklung geschehen kann? Jean gelingt es, die hier notwendigen Grenzen zu ziehen und vielleicht gerade so Johnny die Chance zu geben, sich aus Abhängigkeiten zu lösen und auf eigenen Beinen zu stehen.

Es ist von „tadellos“ und „notwendigen Grenzen“ die Rede.

Demgegenüber wird auch eine Natürlichkeit der körperlichen Anziehung dargestellt, wenn davon gesprochen wird, dass in jeder Klasse „ein oder zwei Jugendliche sind, die (den Lehrer) mehr berühren als andere“. (bei LGBT Bern sind mit „Jugendlichen“ Kinder ab 10 gemeint).

Die „notwendigen“ Grenzen stellen sich mir als kulturell notwendig dar, nicht als notwendig im natürlichen Sinne. Der Film scheint einen sehr positiven Blick auf das Mentorenverhältnis zu haben und auch die körperliche Anziehung des Jungen zu seinem Mentor nicht zu verleugnen. Das einseitige, als notwendig gedachte Setzen einer Grenze durch den Mentor bleibt trotzdem Voraussetzung für dessen Tadellosigkeit. Ich finde das zweifelhaft. An der positiven Natur des Mentorenverhältnisses würde sich durch eine Verletzung der gesellschaftlichen Normen substantiell nichts ändern. Bei gegenseitiger körperlicher Anziehung würde das Band dadurch wahrscheinlich sogar stärker werden.

Warum ist dem Regisseur die Tadellosigkeit der Erwachsenen in seinem Film wichtig? Verlässt der Film in Hinblick auf die „Tadellosigkeit“ des Lehrers möglicherweise die autobiographische Basis? Wenn es einfach darum ginge, die tatsächliche Begebenheit zu erzählen müsste die Tadellosigkeit als solche nicht wichtig sein und man müsste auch nicht extra die Tadellosigkeit der Erwachsenen „im Film“ anführen, wenn es sie in dieser Eindeutigkeit auch beim tatsächlichen historischen Geschehen vorgelegen hätte.

Die Einlassung:

Ich stütze mich auf eine persönliche Erfahrung und ich glaube nicht, dass der Film die Sexualität mit 10 Jahren thematisiert, und natürlich ist es von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Das waren Umwälzungen in meinem Kopf, und es hat lange gedauert, bis ich sie entschlüsselt hatte.

hört sich für mich eher so an, als ob doch etwas vorgefallen sein könnte, dass jenseits der gesellschaftlich akzeptierten Grenzen lag und als Missbrauchserfahrung hätte umgedeutet werden können.

Das sehr positive Urteil des Regisseurs über Mentoren spricht für mich gegen eine negative Umdeutung. Falls es den von mir vermuteten Grenzübertritt gab, deutet für mich alles darauf hin, dass er auch in der Rückschau insgesamt neutral oder gar positiv besetzt ist.

War die Tadellosigkeit nötig, um den ohnehin kontroversen Film überhaupt drehen zu können? Oder dient die behauptete Tadellosigkeit dem Schutz seines ehemaligen Lehrers und Mentors vor Verfolgung?

Letztlich ist das alles komplett spekulativ. Es ist durchaus möglich und auch nicht unwahrscheinlich, dass es keine Grenzüberschreitung gab.

Die für wichtig befundene „Tadellosigkeit“ hat mir vor allem vor Augen geführt, wie sehr sich die Zeiten und Sitten ändern können: die klassisch-antike Rechtfertigung für das erotische Verhältnis von Männern zu Jungen war ein Mentorenverhältnis. Heute ist die Rechtfertigung eines Mentorenverhältnisses seine behauptete Asexualität und „Tadellosigkeit“.

Gert Hekma gestorben

Ich habe gerade erfahren, dass am 19. April der niederländische Anthropologe und Soziologe Gert Hekma überraschend verstorben ist. Er wurde 70 Jahre alt. Hekma unterrichtete von 1984 bis 2017 Schwulen- und Lesbenforschung an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Universität Amsterdam. Er befasste sich dabei auch mit der Geschichte der (Homo-)Sexualität. Angeeckt ist er mit seinen Wortmeldungen zu Pädophilie und zu Sadomasochismus. Die niederländische Wikipedia beschreibt ihn als Teil der akademischen Gegenkultur.

Hekma ist der Sohn eines Notars und wuchs im niederländischen Bedum auf. Er war häufiger Besucher der DOK- Schwulendisco und Mitglied der radikalen „Roten Schwuchteln“ (niederländisch: „Rooie Flikkers“). Hekma ist Büchersammler, und hat einen Fetisch für Satin. Er ist ein Fan von Marquis de Sade. De Sade ist nicht nur einer seiner Lieblingsautoren und eine Quelle der Inspiration, Hekma ist auch fasziniert von De Sades Position zu Gewalt, und hat De Sade dazu benutzt, seinen Schülern eine andere Perspektive auf Sexualität und Gewalt zu vermitteln. Hekma setzt sich gegen Männlichkeit, Bevormundung und traditionelle Geschlechterrollen ein.

2007 erhielt er Morddrohungen, nachdem er die Idee unterstützt hatte, ein Boot für Jugendliche bei der Amsterdam Gay Pride einzubauen. Im Jahr 2014 war Hekma Mitbegründer einer Petition an den Obersten Gerichtshof der Niederlande , in der er den Obersten Gerichtshof der Niederlande aufforderte, die Pro-Pädophilie- Vereinigung Vereniging MARTIJN nicht zu verbieten. Seine Unterstützung von MARTIJN führte zu Morddrohungen und einem versuchten Einbruch. Hekma hat erklärt, dass er kein Pädophiler ist. Er und sein Lebensgefährte, Soziologe Mattias Duyves (1953), sind seit mehr als vierzig Jahren zusammen. Sie trafen sich 1977 und heirateten 2007. Beide setzen sich für sexuelle und Beziehungsfreiheit ein.

Hekma war eine für die niederländische Pädo-Szene wichtige Persönlichkeit. Obwohl und vielleicht auch weil er selbst nicht pädophil war. Dass er die niederländische Pädo-Szene / -Bewegung oft unterstützt und verteidigt hat, war das Ergebnis seiner den Menschen verpflichteten Moral im Gegensatz zu einer den Fesseln der Sittlichkeit verpflichteten Moral, für die es kein Problem ist, wenn dafür Menschen unter die Räder kommen.

Er war ein kluger Denker, der sich sowohl für Kinder und Jugendliche und ihr Recht auf Sexualität als auch für Pädophile eingesetzt hat. Jemand, der sich dem erheblichen Druck, den es in späteren Jahren auf ihn gab, nicht gebeugt hat, weil er den toxischen Moralismus hinter dem Druck erkannt hat und Solidarität für moralisch geboten hielt.

Auf der Seite Brongersma.info findet man 104 Artikel, wenn man seinen Namen als Suchparameter angibt. Es handelt sich vor allem um Artikel von ihm oder Interviews mit ihm, die im Laufe der Jahrzehnte veröffentlicht wurden und mit Pädosexualität zu tun haben.

Ich habe das erste mal etwas über Gert Hekma gelesen, als über das 2007 geplante Boot für Jugendliche auf der Amsterdam Gay Pride berichtet wurde. Das Projekt für das Boot entstand aus der Initiative eines 14-jährigen schwulen Jungen. Da das Schutzalter in der Niederlande seit 2002 bei 16 Jahren liegt, wollten viele das Projekt verhindern.

Aus einem Bericht vom 19. Februar 2007 über das Projekt:

Niederländische schwule Jugendliche unter 16 Jahren haben letzte Woche einen wichtigen Sieg errungen, als der Amsterdamer Bürgermeister Job Cohen schließlich seine Zustimmung zu einem speziellen Boot für diese Jugendlichen bei der jährlichen Canal Pride-Homosexuellenparade durch die berühmte Wasserstraße im Stadtzentrum gab, eine Veranstaltung, für die eine Genehmigung der Stadt erforderlich ist.

Der Bürgermeister von der Partij van de Arbeid (niederländische Arbeiterpartei) hatte der überregionalen Tageszeitung De Volkskrant zufolge zunächst die Genehmigung für das Jugendboot verweigert, weil er Bedenken hatte, „diese gefährdete Gruppe“ in die jährliche Prozession einzubeziehen. Nach einem Treffen mit Frank van Dalen, dem Vorsitzenden des COC Niederlande, der 1946 gegründeten ältesten LGBT-Gruppe der Welt, änderte Cohen jedoch seine Meinung.

Das spezielle „Homo Youngsters“-Boot bei der traditionell farbenfrohen und festlichen Canal Pride Bootsparade, die dieses Jahr am 4. August im Rahmen der dreitägigen Pride-Feierlichkeiten und -Veranstaltungen stattfindet, wird nach Angaben der nationalen niederländischen Nachrichtenagentur ANP Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren vorbehalten sein, wobei die Jugendlichen von ihren Eltern auf dem Boot begleitet werden.

Die Initiative für das Boot für minderjährige Jugendliche ging von dem 14-jährigen Danny Hoekzema aus, einem schwulen Jugendlichen, der auf seiner persönlichen Website für diese Idee warb.

„Mein Ziel ist es, mit diesem Boot mehr Aktivitäten für schwule und lesbische Jugendliche im ganzen Land zu schaffen“, sagte er in einem ausführlichen Interview, das per E-Mail geführt wurde, gegenüber Gay City News.

Danny sagte, er habe eine Lawine von Hunderten von E-Mails erhalten, die ihn unterstützen. „Dutzende von Teenagern in meinem Alter schicken mir Mails, in denen sie mir zustimmen, dass es nicht genug Aktivitäten speziell für unsere Altersgruppe gibt“, sagte er und fügte hinzu: „Etwa 30 von ihnen haben sich bereits gemeldet, um mit mir auf dem Teenie-Boot mitzufahren. Andere schreiben, dass sie meine Initiative unterstützen, aber sie trauen sich noch nicht, sich zu outen. Sie hoffen, dass sich die Dinge aufgrund der Aufmerksamkeit und des wachsenden Verständnisses für schwule Teenager ändern werden. Das wird ihnen helfen, sich zu outen. Eine Mutter eines 12-jährigen schwulen Teenagers schrieb mir, ihr Sohn habe sich aufgrund meiner Initiative geoutet. Beide werden im August an dem Boot teilnehmen.“

Danny erzählte diesem Reporter, dass er die volle Unterstützung seiner Eltern für sein Vorhaben hat. „Ich habe mich vor 21 Monaten geoutet, als ich 12 Jahre alt war. Jetzt bin ich gerade 14. Ich habe es meinen Eltern per Brief mitgeteilt, den ich auf ihr Kopfkissen im Schlafzimmer gelegt habe. Am nächsten Morgen haben sie mich um 8 Uhr geweckt. Dann haben wir ein richtig gutes Gespräch darüber geführt. Meine Mutter arbeitet als Verkaufsleiterin bei einer Zeitung und mein Vater ist Buchhalter. Sie haben sehr gut reagiert, als ich ihnen von meiner Initiative für das Jugendboot bei der Canal Parade erzählt habe. Sie unterstützen mich und werden mit mir auf dem Boot fahren. Ist das nicht großartig?“

Danny merkte an: „Alle möglichen Leute, die ihre Unterstützung zeigen wollen, schicken mir Mails. Zum Beispiel ältere schwule Männer, die sich an die Zeit erinnern, als sie in meinem Alter waren. Sie wussten auch, dass sie in meinem Alter schwul waren, aber sie waren einsam und kannten niemanden wie sich selbst. Und auch Heteros schicken mir Mails. Sie halten es für eine wirklich coole Idee und wollen mich ermutigen, sie weiterzuverfolgen. Der Bedarf an Aktivitäten für schwule und lesbische Teenager ist groß. Die Leute reden jetzt darüber – endlich. Ich bin sicher, dass das einen Unterschied macht.

Von den 30 anderen Jugendlichen unter 16 Jahren, die sich für das Teenie-Boot angemeldet haben, ist der jüngste 12 Jahre alt, so van Dalen vom COC, und das Durchschnittsalter liegt bei 14 Jahren. Als er erfuhr, dass so viele Jugendliche an der Pride-Parade durch die Grachten teilnehmen wollen, sagte der Bürgermeister sogar: „Wir brauchen ein größeres Boot“, so van Dalen über sein erfolgreiches Treffen mit Cohen.

Doch der Sieg für Danny und sein Boot kam erst nach einem Medienrummel um die Pädophilievorwürfe einer umstrittenen Figur in der Amsterdamer Schwulengemeinschaft, die zu einer Reihe von Morddrohungen gegen einen international bekannten schwulen Wissenschaftler führten.

Hintergrund des Feuersturms über Pädophilie ist ein anhaltender Kampf um die Kontrolle der Canal Pride-Veranstaltung. Von 1996 bis 2005 wurden die Canal Pride und die anderen Pride-Feiern von der Amsterdamer Gay Business Association (BGA) unter der Leitung von Siep de Haan organisiert. Doch die Unzufriedenheit mit de Haans Führung wuchs, und es gab Anschuldigungen wegen finanzieller Veruntreuung. (…) Diese Vorwürfe veranlassten die Stadtverwaltung, de Haans Gruppe im vergangenen Jahr die Genehmigung für die Pride-Veranstaltungen zu entziehen und sie einer neuen Trägerorganisation, Pro Gay, zu erteilen, an der die COC beteiligt ist.

Vor diesem Hintergrund hat de Haan – als er von den Plänen für das Boot der Minderjährigen erfuhr – vor einigen Wochen eine Kampagne gestartet, um das Sponsoring der Pride-Veranstaltungen durch Pro Gay und COC mit Anschuldigungen der Pädophilie zu untergraben, wie aus Artikeln in der niederländischen Presse und Berichten lokaler Schwulenaktivisten hervorgeht.

Dabei wählte er Gert Hekma aus, einen international bekannten schwulen Akademiker, der an der Universität von Amsterdam Schwulen- und Lesbenstudien unterrichtet. Seit de Haan seine Kampagne gestartet hat, wurde Hekma mehrfach mit dem Tod bedroht.

(…)

Während der Medienexplosion, so van Dalen, verlagerte sich die Debatte von sexuellem Verhalten zu jeglicher Diskussion über minderjährige homosexuelle Jugendliche.

„Der Ton war: ‚Wie kann ein 14-Jähriger wissen, ob er schwul ist oder nicht – er ist zu jung'“, sagte er mir.

Als dieser Reporter den jungen Erfinder der Idee des Jugendboots fragte, wie er auf solche Kritik reagieren würde, antwortete Danny: „Heterosexuelle Jugendliche werden nie über ihre Sexualität befragt. Das gilt auch für schwule und lesbische Teenager. Lesen Sie einfach ihre E-Mails an mich und die Mails älterer schwuler Männer, die sich an ihre Situation erinnern, als sie in unserem Alter waren. Sich jung zu outen, das ist das einzig Neue.“

Danny fährt fort: „Es gibt einfach nicht genug Aktivitäten und keine speziellen Orte für Jugendliche in meinem Alter. Diese Aktivitäten müssen organisiert werden. Nicht von Einzelpersonen, sondern von professionellen Organisationen. Deshalb bin ich so froh, dass COC Niederlande mich unterstützt. Es gibt viele professionelle Organisationen, die mit heterosexuellen Teenagern arbeiten. Niemand stellt jemals die Notwendigkeit oder die Absichten der Menschen und Organisationen in Frage, die diese Aktivitäten für sie anbieten. Es ist schlicht und einfach Homophobie, ihre Absichten in Frage zu stellen. Warum sollte es bei schwulen und lesbischen Teenagern anders sein? So sehe ich das.“

Ich denke der Fall zeigt, trotz des Erfolges immer noch eine gewisse Verkrampftheit.

Ist es wirklich nötig, dass ein 12-jähriger zum „Teenager“ erklärt wird, damit die Tatsache seine sexuelle Neigung, die er selbst für sich erkannt hat, auch von anderen anerkannt wird? Sind Kinder per Definition asexuell? Ist es wirklich angemessen unter 12-jährige auszuschließen? Was soll damit geschützt werden? Das eigene nicht-wahrhaben wollen? Der Sänger Ronan Parke (der als 12-jähriger Zweiter bei Britain’s Got Talent wurde) hat sich als 20-jähriger öffentlich geoutet. In seiner Familie tat er es mit 7 oder 8. Aus seinem Bericht:

Ja. Ich erinnere mich daran, wie ich ein Coming-out bei meinen Eltern versucht habe: Ich war jung – ich kann mich nicht mehr erinnern, wie alt ich war, so 7 oder 8 Jahre – und ich ging nach unten inns Wohnzimmer und stand vor dem Fernseher und nahm die Fernbedienung und sagte: „Mami, Papi, ich habe euch etwas zu sagen! Alles dramatisch[lacht] Und sie haben einfach gesagt: „Ja, ja, ja, wir wissen, du bist schwul“, und sie haben mir die Fernbedienung abgenommen und den Fernseher wieder eingeschaltet! Ich war wie[dramatisches Keuchen], „Was?“! Aber sie wussten es einfach immer. Und danach brauchte es auch kein Coming-Out vor meinen Freunden kommen. Aber ich habe mich immer als schwuler Mann identifiziert und war immer sehr stolz, es zu sagen.

Warum und mit welchem Recht hätte man dem 8-jährigen Ronan oder anderen Jungen wie ihm die Teilnahme an einer Pride-Parade verweigern sollen?

Nach Britain’s Got Talent gab es einige Musikveröffentlichungen mit dem 12/13-jährigen Ronan Parke für die auch Musikvideos veröffentlicht wurden. Ronan sang dort unplugged, nur von der Gitarre von Matthew “Mafro” Phelan begleitet. Wer die Videos ansieht, muss blind sein, um nicht zu sehen, wie Ronan den damals 25-jährigen Gitarristen anschmachtet.

Hekma hat sich auch für solche Jungen eingesetzt.

Von Hekma stammt eine kluge Analyse zur Problematik und den Ursachen der Diskriminierung generationsübergreifender Liebes- und Sexbeziehungen, ursprünglich erschienen in KOINOS, Ausgabe #52 (Winter 2006):

Sexualdemokratie und Ausgrenzung der Jungenliebhaber

Bis vor kurzem lebten wir in einem Sexualsystem, in dem die Lustbefriedigung vor allem zwischen sozial ungleichen Personen erfolgte: Mann und Frau, Alt und Jung, Arm und Reich, Sohn reicher Eltern und Dienstmädchen, Hurenbock und Hure, Butch und Femme, Tunte und Tülle (femininer Homosexueller und maskuliner Heterosexueller). Jetzt wechselt man zu einem anderen System, in dem der Aspekt der Gleichheit betont wird. 

Es ist eine Wende, die in romantischen Idealen von Kameradschaft in der Ehe ihren Ursprung hatte und ihre Krönung in dem, was der englische Soziologe Anthony Giddens als ‘pure relations’ bezeichnet: sexuelle Beziehungen, die gleichwertig sind. Machtunterschiede im Bett, die ehedem einen erotischen Mehrwert hatten, sind durch Ideale der Sexualdemokratie ersetzt worden

Vor allem Schwule und Lesben profitieren von dieser weltweiten Wende, weil ihre Beziehungen heutzutage gleichartig und austauschbar sind. Heterosexuelle haben mit dem Problem zu kämpfen, dass es in ihren Beziehungen immer den Geschlechtsunterschied geben wird, was das Gleichheits- und Demokratiedenken erschwert.

Es gibt einige Gruppen, die unter der Gleichheitsethik sehr zu leiden haben. Sadomasochisten versuchen dem zu entkommen, indem sie anführen, dass die Rollen in ihren Beziehungen austauschbar sind und auf gegenseitiger Zustimmung beruhen. In dem Bereich der Prostitution wäre die einzig mögliche Lösung die, dass die klassische Rollen des ‘Mannes als Käufer’ und der ‘Frau als Anbieterin’ öfter mal getauscht würden. Aber das ist eher unwahrscheinlich. 

Die beiden neuen großen Tabus für die Gleichheitsfundamentalisten sind Zoophilie und Pädophilie, weil aus deren Sicht diese Beziehungen grundsätzlich ungleich sind. Sie fußen auf einem Machtunterschied und stellen nach Ansicht der Verkündiger der erotischen Demokratie immer einen Missbrauch dar, zumal da die Objekte der Begierde angeblich stimm- und wehrlos sind.

Bei der Betrachtung homosexueller Beziehungen in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten erkennt man zwei vorherrschende Formen, die oft soziale Institutionen mit festen Regeln und Orten waren. Bei der ersten Form handelt es sich um die Beziehung zwischen einem femininen und passiven Mann einerseits und einem maskulinen und aktiven Typ andererseits, so wie in der Beziehung zwischen Tunte und Tülle (auf Englisch Queen und Trade). 

Die andere Form ist die Beziehung zwischen einem Mann und einem Jungen. In diesem Blatt brauche ich die zahllosen Beispiele dafür wohl nicht anzuführen. Männer hatten zweifellos auch auf andere Art und Weise und in anderen Rollen Sex miteinander, aber Beispiele dafür sind weit seltener. Außerdem waren diese Beziehungsformen fast nie soziale Institutionen in der Art, wie es für die beiden anderen Formen kennzeichnend war.

Betrachtet man die Entwicklungen weltweit, so zeigt sich, dass in der westlichen Welt eine neue homosexuelle Beziehungsform entstanden ist: die des Homosexuellen oder Gay, des Mannes, der es mit einem Mann treibt, wobei beide eine maskuline Rolle übernehmen und in etwa gleichen Alters sind. Dieses Modell gibt es erst seit sehr kurzer Zeit, aber es verbreitet sich überall ganz rasch. 

Diese ‘Erfindung’ auf dem Gebiet der Beziehungen ist dabei, der weltweite Standard für homosexuelles Verhalten zu werden. Dies findet nach einem halben Jahrhundert seine endgültige Bestätigung in der Schwulenehe. Daneben besteht aber weiterhin die homosexuelle Form, bei der einer der beiden Partner gleichsam das Geschlecht tauscht. Diese Form weckt verhältnismäßig wenig Widerstand. Weder die Gesellschaft noch die Schwulengemeinschaft empfinden solche Geschlechts-Inversionen als einen schweren Verstoß gegen die Ideale der Sexualdemokratie.

Ganz anders ergeht es den Jungenliebhabern. Wo immer sie als solche erkannt werden, wird ihnen arg zugesetzt. Sie sind sogar aus den Schwulenparaden – jene stolzen Umzüge sexueller ‘Vielfalt’ – verbannt worden. In entlegenen Gebieten mit einer traditionellen Kultur, etwa in Afghanistan, sind sie noch ganz Teil der Gemeinschaft (so sollen niederländische Soldaten in der afghanischen Provinz Uruzgan den ‘berüchtigten Päderasten’ Mohammed Normalverbraucher beschützen).

Wo immer sich die Modernisierung durchsetzt, wächst der Widerstand gegen den ‘Kindesmissbrauch’, der die Pädophilie angeblich ist. Den Kritikern der Jungenliebe steht ein breites Spektrum an Argumenten zur Auswahl. Für die Psychiatrie ist es eine Krankheit, für die meisten Religionen eine schwere Sünde, für sehr viele Leute von heute schlichtweg sexueller Missbrauch unschuldiger Kinder. 

Früher gab Sex zwischen Jugendlichen und Erwachsenen höchstens Anlass zu einer unbestimmten Art von Besorgnis, heute besteht offensichtlich eine zwingende Notwendigkeit zum Eingreifen. Strafgesetze werden verschärft und weitreichender interpretiert, Altersgrenzen werden heraufgesetzt und ‘Täter’ fanatischer verfolgt. Im Zuge der Frauenemanzipation wenden sich Mütter mit größerem Erfolg gegen den sexuellen Habitus von Männern, die auf Jungen stehen. Es ist merkwürdig, dass wegen sexueller Praktiken, die zu anderer Zeit und an anderem Ort gerade die Grundlage für wichtige soziale Institutionen bildeten, hier und heute eine riesige und weltweite Panik ausbricht.

Es ist noch eine offene Frage, warum früher nahezu alle Kulturen den Sexualtrieb auf soziale Ungleichheit gründeten, während für eine neue sexuelle Weltkultur gerade Gleichheit der einzig akzeptable Motor der Lust ist. Wie auch immer, es ist eine weltweite Tendenz, gegen die Pädophile den Kürzeren ziehen. 

Wir können nur hoffen, dass man den Wahnsinn einer dermaßen eindimensionalen Sicht der Sinnenfreude einsehen wird. Oder dass die Kinder, die in Sachen Sex an der kurzen Leine gehalten werden, sich massenhaft gegen die Vorstellung, sie wären unschuldig und asexuell, auflehnen werden. Das dürfte aber so leicht nicht passieren. Ich fürchte daher, dass wir einstweilen eine verkrampfte sexuelle Gleichheitsideologie am Hals haben werden, die niemand glücklicher machen wird.

Hekma spricht hier das an, was ich als Toxisches Gleichheitsdogma bezeichnen würde. Ungleichheit wird mit Missbrauch gleichgesetzt. Auf die tatsächliche Ausnutzung von Ungleichheit kommt es nicht mehr an.

Das betrifft Pädophile und Hebephile in besonderer Weise, aber durchaus auch ganz normale Heterosexuelle und Schwule. Wer eine Beziehung mit jemandem führt, demgegenüber er offiziell in einer Machtposition ist, muss damit rechnen, bei Entdeckung massiv Ärger zu bekommen, etwa zu einem Rückzug von Ämtern gezwungen zu werden oder gar (wenn sich das ganze im Arbeitsumfeld abgespielt hat) seinen Job zu verlieren.

Derartige Konsequenzen sind berechtigt, wenn eine Machtposition zum Schaden des anderen ausgenutzt wurde. Wenn es auf das Ausnutzen nicht ankommt und allein die Existenz von wahrgenommener Ungleichheit zu massiven Sanktionen führt wird die Idee der Gleichheit allerdings für alle Beteiligten toxisch.

Einer meiner Verwandten ist seit etlichen Jahren glücklich mit einer Frau verheiratet, deren Vorgesetzter er war, als die Beziehung begonnen hat. Sie haben die Beziehung damals einige Jahre lang geheim gehalten. Würde er heute in einem US-Konzern oder einem deutschen Medienunternehmen arbeiten, wäre er bei dieser Sachlage seinen Job los und hätte seinen Ruf nachhaltig beschädigt. Dies würde beiden Beziehungspartnern massiv schaden. Unter den heutigen Bedingungen würde es – aus Angst vor den möglichen Konsequenzen – vielleicht gar nicht mehr zu dieser Beziehung kommen. Den beiden wäre dann viel gemeinsames Glück entgangen.

Diese Form des Gleichheitszwangs ist letztlich das, was sie zu bekämpfen vorgibt: strukturelle Gewalt.

Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.

Johan Galtung,, Erfinder des Konzepts der strukturellen Gewalt

Die päderastische Beziehung der Antike hat ihren besonderen Wert und ihr gesellschaftliches Ansehen gerade aus der Ungleichheit der Beteiligten gezogen: aus einem Mentorenverhältnis, dass den Älteren verpflichtet hat, sich zu Gunsten des Jüngeren einzusetzen.

Hekma waren diese Dinge klar. Ihm ging es um eine von Ideologie befreite Gesellschaft, die es beliebigen Menschen erlaubt, miteinander glücklich zu sein.

Seine Stimme wird vermisst werden.

Kinder als Objekt von Populismus

Ich habe mich dieser Tage an einen alten Spruch von Gerhard Schröder erinnert.

Der Mann ist ja neuerdings wegen seiner Nähe zu Putin bei der Bevölkerung unten durch. Laut einer einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Insa sind 74 Prozent der Deutschen und sogar 82 Prozent der SPD-Wähler der Ansicht, dass Schröder aus der SPD ausgeschlossen werden sollte. 75 Prozent (SPD-Wähler: 79 Prozent) wollen, dass Schröders Ruhegehalt als Altkanzler gestrichen werden sollte.

Anders war die Stimmung 2001, als Schröder, damals Kanzler, auf „Bild am Sonntag“ zum Thema Sexualstraftaten gegen Kinder verkünden ließ: „Deswegen kann es nur eine Lösung geben: wegschließen – und zwar für immer“. Eine Wiederholungsgefahr sei nie ganz auszuschließen, deswegen gäbe es „nur ein Gebot: die Kinder müssen geschützt werden.“

Eine Differenzierung etwa zwischen einem Sexualmord, wie er damals Anlass der Äußerung war, und der Tat eines Exhibitionisten oder einem Fall von einvernehmlichem Petting gab es bei Schröder nicht. Es hätte der populistischen Wirkung geschadet.

Was Schröder forderte, war in Deutschland damals verfassungswidrig. Es hat aber niemanden gestört. Erstens war es eben Schröder (und kein NPD-Politiker) und zweitens war Härte gegen echte und vermeintliche Kinderschänder schon immer populär.

1977 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine lebenslange Freiheitsstrafe mit dem Grundgesetz gerade noch vereinbar sei, jedoch nie als absolute Strafe im Sinne einer von vornherein feststehenden Strafverbüßung bis zum Tode. Der durch die lebenslange Freiheitsstrafe bewirkte endgültige Ausschluss des Straftäters aus der Gesellschaft und seine damit verbundene psychische Vernichtung verletze die dem Gesetzgeber aufgegebene Pflicht zur Achtung der Menschenwürde, die jedem menschlichen Wesen, auch dem gemeinen Verbrecher, zukomme. Ein menschenwürdiger Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe sei nur dann sichergestellt, wenn der Verurteilte eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance hat, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiedergewinnen zu können; denn der Kern der Menschenwürde wird getroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben muss.

2017 stufte das Bundesverfassungsgericht (im zweiten NPD Verbotsverfahren) die Forderung nach einer Volksabstimmung über die Wiedereinführung lebenslanger Freiheitsstrafen, welche eine von vornherein feststehende Strafverbüßung bis zum Tode darstellt, als verfassungsfeindlich ein.

Heute ist Schröder seine Beziehung zu Putin und die ihm dadurch entstehenden Vorteile wichtiger als die Kinder in den bombardierten ukrainischen Städten. Was ist aus „Es gibt nur ein Gebot: die Kinder müssen geschützt werden“ geworden? Wenn es ihn selbst etwas kostet, geht es ihm sein Gebot am Arsch vorbei.

Dabei verfügt Schröder nach Schätzungen über ein Privatvermögen von 20 Millionen Euro. Es kann ihm also finanziell egal sein, wenn er ein Aufsichtsratsmandat in Russland verliert. Was für mich darauf hindeutet, dass er eben mehr zu verlieren hat, als ein Aufsichtsratsmandat. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Schröders tatsächliches Vermögen deutlich größer ist als bekannt und eher Dimensionen wie bei Franz-Josef Strauß erreicht. Und dass der große, „unsichtbare“ Teil seines Vermögens primär vom Wohlwollen Putins abhängt und ihm von diesem auch jederzeit wieder genommen werden könnte.

Um welche Dimensionen es auch immer gehen mag: Geld scheint Schröder jedenfalls wichtiger zu sein, als sein Ansehen in Deutschland. Obwohl er so oder so genug Geld behalten würde. Viel mehr als ein annähernd normaler Mensch je ausgeben könnte.

Für mich ergibt sich damit als Bild, dass Kinder für Schröder in seiner Karriere vor allem Objekte politischer Profilierungsmöglichkeiten waren.

Ich vermute, dass dies auch für viele andere Politiker und vermeintliche Kinderschützer zutrifft. Es geht nicht primär um das, was für Kinder gut ist, sondern um den Beifall, das Ansehen, den sozialen Kredit und um die Macht zur Durchsetzung anderer Ziele (sei es feministische Aktivierung, Kampf gegen „Sittenverfall“ und Pornographie oder die Delegitimierung von Datenschutz), die mit Kindern als Objekt des eigenen Sprechens und Handelns erwirtschaftet wird. Deshalb muss einem Kinderwohl noch lange nicht egal sein. Aber für das tatsächliche Handeln ist das Kindeswohl zu oft nur ein nachrangiges Ziel über dessen Stellenwert man nicht nur andere, sondern auch sich selbst belügt.

Leider haben die Menschen 20 Jahre gebraucht, um zu erkennen, was schon 2001 auf der Hand lag: Schröder ist ein menschenverachtender Drecksack.

Auch wenn Schröder mittlerweile durchschaut ist: die Erkenntnis, dass man Pädophile vielleicht auch anders behandeln könnte, als mit Verachtung, Verfolgung und Unterdrückung, ist in der Bevölkerung immer noch nicht angekommen. Stattdessen werden immer neue Methoden gesucht, um vermeintlich „Unerträgliches“ (wie zuletzt die Existenz von Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild) zu unterdrücken.

Die Nutzung von Kindern als Objekt von Populismus und Instrument sozialer und politischer Interessendurchsetzung war, ist und bleibt weit verbreitet. Das liegt auch an den Fähigkeiten der Schauspieler, die Kinder und Kindeswohl für ihre Interessen einspannen. In der Regel sind es Profis und haben sie auch kein schlechtes Gewissen, das man Ihnen ansehen könnte, zumal es subjektiv ja auch bei diesen Profis immer um vermeintlich höhere Ziele (welcher Art auch immer) geht und man das höhere Ziel meist als kompatibel mit dem vorgeschobenen Ziel (Kindeswohl) wähnt.

Ich möchte mit meiner Kritik nicht diejenigen treffen, denen Kinder wirklich am Herzen liegen. Wem Kinder wirklich am Herzen liegen und wer sie nur vorschiebt, ist auf Anhieb aber kaum zu unterscheiden. Deshalb braucht es dringend eine Versachlichung und evidenzbasiertes Handeln. Diese Forderungen richtet sich auch und gerade an die wirklich Wohlmeinenden, denn nur die haben ein echtes Interesse daran, etwas zugunsten von Kindern besser zu machen als bisher und Kinderschutz auf eine neue, bessere, für das Kindeswohl wirksamere Schiene zu setzen. Thematisch gilt die Forderung für Fragen wie das Schutzalter oder die Legalität von Ersatzbefriedigungsmöglichkeiten aber natürlich auch für alle anderen kinder-relevanten Themen wie z.B. die Rahmenbedingungen für Trennungskinder.

Am 11. Februar 2022 berichtete der Spiegel über ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin. 2015 hat das Familienministerium die Studie „Kindeswohl und Umgangsrecht“ in Auftrag gegeben. Sie sollte untersuchen, wie Trennungsfamilien leben, was deren Kinder brauchen und welche Reformen, etwa im Umgangsrecht, notwendig sind.

Die Studie ist lt. Aussage der Wissenschaftler seit 2019 fertig. Der Leiter der Forschungsgruppe sagt: „Die Studie entspricht absolut den wissenschaftlichen Gütekriterien, das bestätigen uns auch unabhängige Fachleute. Wir haben die Vorgaben des Ministeriums, wie besprochen, umgesetzt“. Nur will das Ministerium nichts davon wissen. Angeblich lägen „nur Entwurfsteile in Rohfassung vor“.

Elternverbände, Politiker und Expertinnen warten seit Jahren auf die Ergebnisse der Studie. Es wird vermutet, dass die Veröffentlichung unterdrückt wird, weil die Ergebnisse nicht so ausgefallen sind, wie man es sich im Ministerium gewünscht hätte. Die angeblich erforderliche Fertigstellung scheint regelrecht verschleppt zu werden. Jedenfalls ist das mein Eindruck, wenn zwei aus Sicht der Forscher fertige Studien aus Mai 2019 und November 2019 fertig liegen und das Familienministerium erst im Dezember 2020 jemand anderen beauftragt, die Studie fertig zu stellen, nur damit die Arbeit dann im Februar 2021 wegen Bedenken des Datenschutzbeauftragten wieder einzustellen.

Wie glaubhaft ist es da, wenn die neue Sprecherin des Familienministerium jetzt (Februar 2022) mitteilt, die Studie solle fertiggestellt werden und die neue Familienministerin (Anne Spiegel, Grüne) messe ihr eine „hohe Bedeutung“ zu? Die Ministerin ist zuletzt jedenfalls negativ aufgefallen, weil sie im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe im Ahrtal die Warnung an die Bevölkerung verpennt hat und am Tag danach als erstes um ihr Image besorgt war (Aus einem Gesprächsprotokoll: „Das Blame Game könnte sofort losgehen, wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, wir alle Daten immer transparent gemacht haben, ich im Kabinett gewarnt habe, was ohne unsere Präventionsmaßnahmen und Vorsorgemaßnahmen alles noch schlimmer geworden wäre etc.“). Ist die „hohe Bedeutung“ Lippenbekenntnis zur Imagewahrung oder ernst gemeint?

Nachdem ein Antrag auf Herausgabe nach dem Informationsfreiheitsgesetz scheiterte, wurde das Ministerium verklagt. Im August 2021 entschied das Verwaltungsgericht Berlin, dass das Bundesfamilienministerium die ersten Fassungen der Studie (05/2019 und 11/2019) herausgeben muss. Gegen das Urteil legte das Familienministerium allerdings Berufung ein. Einen Anspruch auf Zugang zu Entwurfsfassungen gäbe es nicht. Das Ende ist offen.

Mit Kindeswohl hat das Agieren des Familienministeriums in diesem Fall aus meiner Sicht rein gar nichts zu tun.

Ein anderes Beispiel für Klientelpolitik jenseits des Kindeswohls ist der Fall einer erst zugesagten und dann – nach Protesten der Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros (BAG) zurückgezogene – Zuwendung an das „Forum für soziale Inklusion“ (FSI) in Höhe von 400.000 Euro aus dem Bundeshaushalt. Die BAG argumentierte, das Forum zähle zu den Organisationen, die seit Jahren mit antifeministischen Argumentationen gegen die Gleichstellung Front mache. Auf der Webseite des Vereins werde gegen die Benachteiligung von Männern polemisiert. Dort heiße es unter anderem: „Die aktuelle erfahrbare Bundespolitik setzt den Fokus nahezu ausschließlich auf Frauen und Mütter und ihre Interessen. Die Belange von Jungen, Männern und Vätern werden durch die Bundespolitik nicht gesehen; sie werden vielfach vorsätzlich unsichtbar gemacht“. Anlässlich der Bereitstellung von 120 Millionen Euro für den Ausbau von Frauenhäusern polemisiere der Vereinsvorsitzende Gerd Riedmeier mit den Worten: „Die von Frau Giffey zu verantwortende einseitige Kampagne forciert in schädlicher Weise die bereits bestehende Polarisierung zwischen den Geschlechtern. Gewalt von Frauen gegen Männer (und Kinder) werde bagatellisiert, im umgekehrten Falle stark emotionalisiert. Für Männer als Opfer gebe es aus ihrem Haus weder Empathie noch Hilfen.“ Man sei fassungslos, dass der Verein nun für seine zweifelhafte Arbeit in einem Umfang gefördert werden solle, „von dem andere Männer- und Frauenorganisationen nur träumen könnten“.

Wenn 120 Millionen an Frauenhäuser gehen, scheinen mit 400.000 Euro für einem Verein, der sich um ein anderes, reales und ebenfalls Kindeswohl-relevantes Thema kümmert, wirklich nicht übertrieben und kein angemessener Grund für Fassungslosigkeit bei der Organisation, die die 120 Millionen Euro bekommt.

Das Forum für soziale Inklusion (FSI) ist übrigens eine der Organisationen, die sich für die Veröffentlichung der zuvor erwähnten Studie „Kindeswohl und Umgangsrecht“ einsetzt.

Der Fall der Studie zeigt für mich überdeutlich, dass derartige Organisationen förderwürdig sind, und auch dass (von feministischer Seite vielleicht als ketzerisch empfundene) Kritik an der sakrosankten Arbeit des Familienministeriums oder an hart erkämpften feministischen Besitzständen für das tatsächliche Kindeswohl durchaus wichtig sein können. Dafür muss sie berechtigt sein. Dieser Prüfung hält nicht jede Kritik stand. Wenn man Kritik schon aus Prinzip abbürstet, wird zwangsläufig auch berechtigte Kritik mit-abgebürstet. Das ist eine verpasste Chance, es mindert aber auch die Legitimität der „Instanz“, die keine Kritik zulässt. Wer etwas verbessern will, muss sich die Mühe machen, Kritik ernst zu nehmen und genau hinzuschauen, statt mit Beißreflexen darauf zu reagieren.

Ein Alleinvertretungsanspruch für das Wohl der Kinder durch Frauen oder die unantastbare weibliche Deutungshoheit, was dem Kindeswohl dient, sind nicht mehr zeitgemäß. Man kann nicht legitim männliche Herrschaft und patriarchalische Gesellschaftsmuster verdammen und weibliche Herrschaft über Familie und Kinder als gottgegeben und unverrückbar verteidigen.

Verbot von Pädoaktivismus in der Niederlande

Aufgrund eines Hinweises aus einem Kommentar zum letzten Artikel konnte ich nun Einsicht in die Urteilsbegründung im Fall von Marthijn Uittenbogaard nehmen. Für Interessierte hier der Link mit zwischengeschaltetem „google translate“ zur Übersetzung ins Deutsche.

Aus der Urteilsbegründung wird deutlich, dass mit dem Urteil des Obersten Gerichts der Niederlande zum Verbot des Vereins Martijn von 2014 im Grunde organisierter Pädoaktivismus verboten wurde. Zitat aus dem aktuellen Urteil:

Laut dem Obersten Gerichtshof gab es eine eng verbundene Gruppe von Menschen, die glaubten, dass Kinder grundsätzlich von sexueller Intimität mit Erwachsenen profitieren würden. Der Verein Martijn hat diese Überzeugung ständig gepflegt, indem er das Material ausgewählt hat, das er auf seiner Website platziert hat. Auf diese Weise unterstützte der Verein Martijn die Überzeugung seiner Mitglieder, dass sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen rein und gut sind. Der Verein Martijn hat die Gefahren des sexuellen Kontakts mit kleinen Kindern heruntergespielt und verherrlicht. All dies zusammen stellt nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs eine Tätigkeit des Martijn-Vereins dar, die einen tatsächlichen und schwerwiegenden Verstoß gegen den in den Niederlanden als wesentlich erachteten Grundsatz darstellt, dass die körperliche und sexuelle Unversehrtheit des Kindes geschützt werden muss.

Es wurden also gruppenbezogene Aktivitäten verboten, die Gefahren des sexuellen Kontakts mit Kindern herunterspielen und verherrlichen, weil dies ein Verstoß gegen die körperliche und sexuelle Unversehrtheit des Kindes sei.

Tatsächlich schützt das Verbot nicht die körperliche und sexuelle Unversehrtheit von Kindern, sondern herrschende, von der Mehrheit der Gesellschaft leidenschaftlich vertretene Fehlvorstellungen.

Natürlich reicht es nicht, zu behaupten, etwas sei eine Fehlvorstellung. Er gibt viele autobiografische Zeugnisse von Menschen, die als Opfer eingeschätzt werden, weil sie als junge Menschen sexuelle Begegnungen mit älteren Menschen hatten, die sich aber nicht als Opfer sehen. Ich habe schon auf einige Beispiele wiederholt in Artikeln hingewiesen, eine sehr umfassende Quellsammlung dazu ist die Seite Jumima, die 210 positive Erlebnisberichte gesammelt hat.

Statt mich zu wiederholen, hier ein neuer Fund, ein Teil der Lebensgeschichte von Gad Beck, aus dem dem Dokumentarfilm Paragraph 175. Im Wikipedia-Artikel zur Dokumentation heißt es über ihn:

Gad Beck wurde 1923 in eine jüdisch-christliche Familie geboren und verbrachte dort eine glückliche Kindheit. Nach 1933 galten er und seine Zwillingsschwester Miriam als Halbjuden und erlebten wachsenden Antisemitismus. Die Anfeindungen in der Schule wurden so schwer, dass Gad seine Eltern überzeugte, ihn 1935 in eine jüdische Schule für Jungen zu schicken. Dort machte er seine erste sexuelle Erfahrung mit einem Mann, als er seinen Sportlehrer nach dem Unterricht in der Dusche verführte. Stolz und mit der für ihn typischen Offenheit prahlte er gegenüber seiner Mutter über seine Eroberung. Seine Eltern waren nur wenig überrascht und akzeptierten seine Homosexualität.

1941 trat Beck der Widerstandsgruppe Chug Chaluzi bei, die unter anderem Quartiere und Nahrungsmittel für Juden beschaffte. Immer mehr Juden wurden nun aus ihren Wohnungen verschleppt und in die Konzentrationslager abtransportiert, so auch ein blonder jüdischer Junge, in dessen Haus Beck übernachtet und mit dem er die Nacht verbracht hatte. Die Gestapo interessierte sich jedoch nur für den Jungen und seine Mutter, Beck stand nicht auf der Liste. 1942 versuchte Beck, seine erste große Liebe Manfred Lewin aus einem Gestapo-Lager zu befreien, indem er sich als Hitlerjunge ausgab. Tatsächlich konnte er mit seinem Freund das Lager verlassen, Lewin wollte jedoch seine Familie nicht zurücklassen und so musste Beck hilflos zusehen, wie Lewin freiwillig in das Lager zurückging.

Hier nun der Teil, in dem Gad Beck seine Begegnung im Alter von 12 Jahren mit dem Sportlehrer schildert:

Jenseits autobiographischer Zeugnisse gibt es auch viele wissenschaftliche Studien, die z.B. zeigen, dass es keinen Unterschied gibt, wie erste sexuelle Erlebnisse bewertet werden, die mit einem Gleichaltrigen oder einem Älteren gemacht werden.

Die Kurzzusammenfassung (Abstract) einer 2022 erschienen wissenschaftlichen Studie. (Hervorhebungen zugefügt)

Felson et al. (2019) schätzten anhand einer großen, landesweit repräsentativen finnischen Stichprobe von Sechst- und Neuntklässlern die Populationsprävalenz negativer subjektiver Reaktionen auf sexuelle Erfahrungen zwischen Minderjährigen unter 18 Jahren und Personen, die mindestens fünf Jahre älter sind, sowie zwischen Minderjährigen und gleichaltrigen Partnern zum Vergleich. Anschließend wurden diese Reaktionen in einer multivariaten Analyse auf der Grundlage von Kontextfaktoren berücksichtigt.

In der vorliegenden Studie wird argumentiert, dass die ausschließliche Konzentration auf negative Reaktionen zu kurz greift, um ein umfassenderes wissenschaftliches Verständnis zu erreichen. Sie analysierte das gesamte Spektrum der Reaktionen in derselben Stichprobe und konzentrierte sich dabei auf die positiven Reaktionen.

Was die Reaktionen im Nachhinein betrifft, so reagierten Jungen häufig positiv auf Sex mit Minderjährigen oder Älteren (68 %, n = 280 Fälle), ebenso wie auf positiven Sex zwischen Jungen und Gleichaltrigen (67 %, n = 1510). Mädchen reagierten seltener positiv auf Sex mit Minderjährigen (36 %, n = 1047) und in der Hälfte der Fälle auf Sex mit Mädchen (48 %, n = 1931).

Sowohl beim Sex von Minderjährigen mit Älteren als auch beim Sex von Minderjährigen mit Gleichaltrigen waren die Raten positiver Reaktionen höher bei Jungen im Vergleich zu Mädchen, bei Jugendlichen im Vergleich zu Kindern, wenn die Partner Freunde waren gegenüber Sex mit Fremden oder Verwandten, beim Geschlechtsverkehr im Vergleich zu geringeren Formen sexueller Intimität, bei häufigerem Sex und wenn kein Zwang ausgeübt wurde.

Jungen reagierten bei weiblichen Partnern häufiger positiv als bei männlichen. Beim Geschlechtsverkehr zwischen Minderjährigen und Älteren spielte der Altersunterschied zwischen den Partnern für Mädchen eine Rolle, nicht aber für Jungen, und die Initiierung des Geschlechtsverkehrs durch den Minderjährigen (14 % bei Mädchen, 46 % bei Jungen) führte zu gleich hohen Raten positiver Reaktionen.

Die meisten dieser Faktoren blieben in der multivariaten Analyse signifikant. Die Häufigkeit der positiven Reaktionen, ihre Abhängigkeit vom Kontext, die Ähnlichkeit der Reaktionsmuster mit dem Sex zwischen Minderjährigen und Gleichaltrigen und die Verallgemeinerbarkeit der Stichprobe widersprechen der Trauma-Sichtweise, die häufig auf den Sex zwischen Minderjährigen und Älteren angewandt wird und die besagt, dass dieser unabhängig vom Kontext intrinsisch aversiv ist.

Die Studie erschien in der Fachzeitschift Archives of Sexual Behavior. Die Zeitschrift ist hoch angesehen. In einem Ranking von 2.943 soziologischen Fachzeitschriften landete sie auf Platz 102 und zählte damit zu den obersten 4 Prozent. In einem anderen Ranking interdisziplinärer sozialwissenschaftlicher Fachzeitschriften landete sie auf Platz 1 von 89. Es handelt sich also nicht um Humbug, sondern sehr ernst zu nehmende Wissenschaft. Der Artikel und die dahinterstehende Forschung wurde (wie jeder andere Artikel, der in einer renommierten Fachzeitschrift erscheint) unabhängig überprüft, bevor er veröffentlicht wurde.

Eine Prävalenz von 68% positiver Reaktionen in einer landesweit repräsentativen Studie zeigt auch an, dass autobiographische Berichte wie sie etwa auf Jumima gesammelt oder in meinem Blog hin und wieder zitiert werden, die Wirklichkeit widerspiegeln und zwar besser als die Seelenmord-Narrative mit denen BILD-Zeitungen verkauft werden oder Kinderschutzorganisationen um Aufmerksamkeit, Fördergelder und Spenden konkurrieren. Das Dunkelfeld sexuellen Missbrauchs ist nicht nur eines des unentdeckten sexuellen Missbrauchs (den es selbstverständlich gibt und dem man entgegentreten muss), sondern vor allem eines der vertuschten positiven Erlebnisse, die aus Selbst- und Fremdschutzgründen verheimlicht werden müssen.

Meine Schlussfolgerung zu den autobiographischen Zeugnissen, zu dieser und vielen weiteren Studien: willentlich einvernehmliche sexuelle Handlungen mit Kindern sind kein Verbrechen gegen die körperliche und sexuelle Unversehrtheit des Kindes, sondern ein „Verbrechen“ gegen soziale Normen und Tabus. Das ist für mich entscheidend für die moralische Bewertung und führt zur Überzeugung, dass es letztlich für alle besser wäre, wenn die Normen in menschenfreundlicher Weise angepasst werden würden. An der aktuellen Strafbarkeit und daran dass ein Tabu-Bruch auch für den jüngeren Beziehungspartner negative Konsequenzen haben kann, ändert es aber nichts.

Dass es sexuellen Missbrauch von Kindern tatsächlich gibt und dass er auch schlimme Konsequenzen haben kann, ist unbestritten. Jedes weitere Wort, das die Realität sexuellen Erlebens zwischen Erwachsenen und Minderjährigen so gut wie möglich beschreiben soll, gilt gemeinhin als Verharmlosung und Verherrlichung von „sexualisierter Gewalt gegen Kinder“. Das ist so als würde man Sexualität zwischen Erwachsenen auf Vergewaltigung reduzieren und jedes weitere Wort zu Sexualität zwischen Erwachsenen jenseits von Vergewaltigung als Verharmlosung und Verherrlichung von Vergewaltigung brandmarken.

Die Unterdrückung und Kriminalisierung von Wahrheit, etwa der subjektiven Wahrheit autobiographischer Berichte oder von wissenschaftlichen Erkenntnissen, ist nicht mit dem Prinzip der Meinungsfreiheit vereinbar, egal wie schlecht angesehen die Wahrheit auch sein mag. In diesem Sinne war die Entscheidung des Obersten Gerichts der Niederlande zum Verbot des Vereins Martijn nicht nur eine Katastrophe für organisierten pädophilen Aktivismus in der Niederlande, sondern eine gesamtgesellschaftliche Katastrophe für die Meinungsfreiheit.

Kommen wir nun nochmal zum aktuellen Urteil gegen einen niederländischen Pädo-Aktivisten. Aus diesem Urteil:

Die Fortführung einer verbotenen Organisation erfordert nicht die Fortführung dieser Organisation in all ihren Facetten. Eine Fortsetzung einer verbotenen Tätigkeit liegt bereits dann vor, wenn eine oder mehrere Personen Handlungen begehen, die dem Verhalten ähneln, das zu dem Verbot geführt hat, oder Verhaltensweisen, die ein solches Verhalten unterstützen. Dass dies zusammenhängende Handlungen oder Verhaltensweisen betreffen muss, ergibt sich aus der parlamentarischen Diskussion des Gesetzentwurfs 17 476, in dem der Minister in Bezug auf den ersten Absatz von Artikel 140 DCC feststellte, dass „eine einzelne, nicht symptomatische Aktion ist zu wenig, um als wirksam angesehen zu werden. (…) Eine Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebentätigkeiten möchte ich in dieser Hinsicht nicht machen und scheint mir hier sogar unerheblich .“

Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Fortsetzung der Tätigkeit einer verbotenen Organisation vorliegt, die nicht aufgrund eines strafbaren Verhaltens verboten ist, ist die Tätigkeit maßgebend, die zu dem Verbot geführt hat. Während der Parlamentsdebatte stellte die Justizministerin außerdem fest: „Für die Beantwortung der Frage, ob § 140 Abs. 2 StGB auf neue Tätigkeiten ehemaliger Mitglieder einer verbotenen Vereinigung anwendbar ist, halte ich es für entscheidend, ob die neue Gruppe sich klar von der verbotenen Tätigkeit distanziert.“

Die relevanten Handlungen und Verhaltensweisen müssen daher im Kontext dieser Tätigkeit bewertet werden.

In diesem Fall liegt eine Fortsetzung der Tätigkeit des Vereins Martijn vor, wenn die Gesamtheit der Handlungen und Verhaltensweisen des Beschuldigten dazu führt, dass bei Personen, die von der Tätigkeit Kenntnis haben, die Schwelle für sexuelle Kontakte mit Kindern beseitigt oder solche Kontakte gefördert werden. Ein Beitrag zur Gesamtheit der Handlungen und Verhaltensweisen, der über eine einzelne, nicht symptomatische Handlung hinausgeht, stellt eine Beteiligung an dieser Fortsetzung dar.

Das Gericht muss daher feststellen, ob der Verdächtige das ihm vorgeworfene Verhalten begangen hat und, falls ja, ob dieses Verhalten als Beteiligung an der Fortführung der Aktivitäten der verbotenen Vereinigung Martijn angesehen werden kann.

Dazu stellt das Gericht später fest:

Schließlich haben er und/oder sein Mittäter (…) Erklärungen abgegeben oder dass Erklärungen nicht negiert und dementiert, die sich auf

a. die Leugnung und Verharmlosung der Schädlichkeit von sexuellen Kontakten zwischen Kindern und Erwachsenen und

b. Verherrlichung sexueller Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen und

c. Darstellung von Kindern als Sexobjekte/sexuelle Wesen, beziehen und

d. Hindernisse beseitigen und die Überzeugung unterstützen oder fördern, dass sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen eine gute Sache sind.

Zu den Punkten A und B habe ich hier bereits etwas geschrieben.

Was Punkt C betrifft: dass Kinder sexuelle Wesen sind, ist längst wissenschaftlicher Konsens. Nur ist es beim Obersten Gericht der Niederlande oder Kinderschutzorganisationen noch nicht angekommen. Ich habe den wissenschaftlichen Stand dazu in meinem Blog auch bereits thematisiert und diskutiert.

Zum letzten Punkt verweise ich auf die 2016 veröffentlichte KTW („Kein Täter werden“) Studie „The Association of Sexual Preference and Dynamic Risk Factors with Undetected Child Pornography Offending,“ (Die Assoziation der sexuellen Präferenz und dynamischer Risikofaktoren mit unentdeckten Kinderpornographie-Vergehen), die auch den Effekt der Risikofaktoren auf gemischte Straftaten, also die Nutzung von Missbrauchsabbildungen UND sexuellen Kindesmissbrauch untersucht hat. Ein untersuchter Risikofaktor war eine verharmlosende Einstellung zu Kindesmissbrauch, gemessen nach der BMS Skala. Untersucht wurden die Chancenverhältnisse für verschiedene Riksiofaktoren. Ein Chancenverhältnis von genau 1 bedeutet, dass es keinen Unterschied in den Chancen gibt, >1 bedeutet, dass die Chancen größer sind, <1 bedeutet, dass die Chancen kleiner sind. Ein Wert von 0.5 steht für eine Halbierung des Risikos, ein Wert von 2 für eine Verdoppelung des Risikos.

Ein Ergebnis der Studie war, dass der Risikofaktor „Offence Supportive Attitudes“ (Straftat-begünstigende Einstellungen) hatte gar keinen Einfluss auf das Chancenverhältnis für das Begehen einer Straftat. Das Chancenverhältnis lag je nachdem was miteinander verglichen und welches statistische Verfahren verwendet wurde bei Werten von 0,99 bis 1,01 und das 95%-Konfidenzintervall für die Spannbreite des Chancenverhältnisses war so eng wie bei keinem anderen untersuchten Faktor. Die Spannweite lag im Bereich von 0,96 bis 1,04.

Es gibt keine Legitimation dafür, die Verbreitung von aus ideologischer Sicht für missbrauchsbegünstigend gehaltene Meinungen zu kriminalisieren, wenn sie tatsächlich für das Risiko der Begehung einer Straftat überhaupt nicht relevant sind.

In der Niederlande gilt es nun im Sinne einer angeblichen Fortführung einer verbotenen Vereins als strafrechtlich verboten, systematisch pädoaktivistische Positionen zu vertreten.

Ein Wissenschaftlicher darf auch in Zukunft sagen, dass Kinder sexuelle Wesen sind. Ein niederländischer Pädo-Aktivist darf es nicht. Ein Wissenschaftler darf weiterhin Studien machen, die darlegen, dass es positive Reaktionen von Kindern auf sexuelle Kontakte mit Erwachsenen gibt. Es darf auch jeder aus diesen Studien zitieren. Es sei denn er ist ein niederländischer Pädo-Aktivist. Und so geht es weiter.

Mit dem Urteil gegen Marthijn Uittenbogaard steht jeder niederländische Pädo-Aktivist mit einem Bein im Knast. Zur dessen Person stellte das Gericht fest:

Allerdings sind bei dieser Rechtfertigung auch Art und Schwere des Fortsetzungsverhaltens abzuwägen. Das Gericht kann und will den schockierenden, verwerflichen und gesellschaftlich unerwünschten Charakter der vom Verdächtigen offenbarten und verbreiteten Ideen nicht herunterspielen. Es merkt jedoch an, dass diese Vorstellungen nicht mit Kindesmissbrauch oder Anstiftung dazu gleichgesetzt werden können. Dass dies der Fall war oder gewesen wäre, hat sich in dem Verfahren, das zum Verbot des Vereins Martijn führte, nicht ergeben. Der Verdächtige wurde nie wegen Sexualdelikten (oder irgendeiner anderen Straftat) verurteilt. Obwohl die gesellschaftliche Empörung, auf die sich die Staatsanwaltschaft beruft, zweifellos ein wesentlicher Faktor ist, dem Gewicht beigemessen werden muss, wird dieses Gewicht vom Gericht gegeben, in Anbetracht dessen, was sie oben erwogen hat, anders bewertet. Alles in allem bedeutet dies, dass sie keinen Anlass sieht, die höchstmögliche Strafe zu verhängen.

Die – von der Staatsanwaltschaft auch beantragte – Höchststrafe lag bei 12 Monaten. Das Urteil gegen Uittenbogaard liegt bei 6 Monaten ohne Bewährung, ein Mitangeklagter wurde zu 4 Monaten ohne Bewährung verurteilt.

Der Verein Martijn hat keine Verbrechen begangen. Kindesmissbrauch oder Anstiftung dazu haben sich in dem Verfahren gegen den Verein „nicht ergeben“. Er wurde trotzdem verboten. Auch Marthijn Uittenbogaard hat nie einem anderen Menschen geschadet und soll nun trotzdem für 6 Monate ins Gefängnis. Sein Verbrechen ist, Aktivist zu sein. Ob das Urteil Bestand haben wird, wird die Berufungsinstanz entscheiden.

Der eigentliche, zentrale Grund für das Urteil damals gegen den Verein und heute gegen die Einzelperson ist die gesellschaftliche Empörung, die Ablehnung von pädophilen Aktivismus als „schockierend, verwerflich und gesellschaftlich unerwünscht“. Dass auch Homosexualität einst als „schockierend, verwerflich und gesellschaftlich unerwünscht“ angesehen wurde, ist heute vergessen.

Beide Urteile sind eine Schande für die einst liberale Niederlande.

„Die Wahrheit zu sagen ist ein Verbrechen“

Aus aktuellem Anlass gebe ich hier die Übersetzung eines Artikels von Marthijn Uittenbogaard wieder. Er verdeutlicht den Stand der Meinungsfreiheit in der Niederlande und ihre Bedrohung auch in anderen EU Ländern, da zu erwarten ist, dass das niederländische Beispiel Schule machen wird.

Uittenbogaard wurde nach eigener Aussage gestern (08.03.2021) zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Hier ein Link zum englischsprachig verfassten Original seines Artikels. Die Übersetzung:

Die Wahrheit zu sagen ist ein Verbrechen
Marthijn Uittenbogaard
© 8. März 2022

Ich bin zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Ich zitierte den ermordeten Politiker Pim Fortuyn, der sagte: Warum sollte man Sex zwischen Kindern und Erwachsenen nicht legalisieren? Ich schrieb, dass ich Fortuyn in dieser Frage zustimme, denn wenn man sich alle wissenschaftlichen Studien über die Schädlichkeit pädosexueller Beziehungen ansieht, scheint die Schädlichkeit zu verschwinden, wenn die Beziehung von den Minderjährigen gewollt war. Dies ist nicht meine MEINUNG, sondern die Schlussfolgerung wissenschaftlicher Arbeiten, die zur Veröffentlichung in wissenschaftlichen Zeitschriften zugelassen sind.

Erik van Ree, der an der Universität von Amsterdam (UvA) lehrte, kam zu demselben Schluss, als er die Schädlichkeit pädosexueller Beziehungen untersuchte. Warum ist er nicht verurteilt worden? Gert Hekma, ebenfalls ein pensionierter Dozent der UvA, sagte dasselbe mehrfach. Sie werden nicht strafrechtlich verfolgt, weil sie nicht als so genannte ‚Pädophile‘ bekannt sind; ein Begriff, den ich selbst nicht für meine sexuellen Vorlieben verwende.

Vor zwei Jahren wurde mein Haus von der Polizei durchsucht. Diese Hausdurchsuchung war legal, sagte der Richter heute. Eine Hausdurchsuchung ist nur bei Straftaten mit einer Höchststrafe von x Jahren zulässig, also haben sie sich Volksverhetzung ausgedacht, die eine höhere Höchststrafe nach sich zieht. Ich werde überhaupt nicht wegen Volksverhetzung belangt. Wenn man also das Haus von jemandem wegen Mordes durchsucht, obwohl diese Person gar keinen Mord begangen hat und kein ernsthafter Verdacht gegen sie besteht, dann war die Hausdurchsuchung korrekt, weil die Höchststrafe für Mord Hausdurchsuchungen erlaubt…

Dieser ganze Prozess ist ein politischer Prozess. Nur eine Woche vor den Wahlen in unserem Land. Die faschistischen Politiker an der Macht sind dabei, alle unsere grundlegenden Menschenrechte abzuschaffen. Im Prozess gegen den Verein Martijn war der Justizminister an dem Text beteiligt, der direkt nach dem Urteil an die Medien ging. Wir wurden nicht über das korrekte Datum des Urteils informiert: Es war einen Tag früher als uns gesagt wurde, und die Medien wurden informiert, damit sie die ganze politische Show filmen konnten, ohne dass jemand da war, der die Wahrheit sagte.

Während des Martijn-Prozesses antwortete die Staatsanwältin, als ich sie fragte, ob ich als Person die Martijn-Seite online stellen könne? Denn alles, was ich hörte, war Organisation, und ich bin nur eine Person. Sie antwortete mit: Ja, warum nicht. Jetzt lügen sie in diesem Punkt. Vor zehn Jahren habe ich das schon einmal im Fernsehen gesagt, als ich Gast in einer Fernsehsendung war. Ich erfinde das nicht und es gab auch Zeugen im Gericht. Also habe ich vieles, nicht alles, von martijn.org in ein Wiki auf brongersma.info gestellt und dann schrieb eine Zeitung einen Artikel über diese neue Website. In dem Artikel sagten die Behörden, dass sie meine Website, die damals schon online war, genau im Auge behalten werden. Jetzt, nach mehr als zehn Jahren, hätte ich wissen müssen, dass das alles illegal ist? Ich werde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, ohne auch nur WISSEN ZU KÖNNEN, dass ich etwas Illegales getan habe. Dieses Etwas besteht darin, dass ich die Wissenschaft zitiert habe und die Geschichte der Politiker und der Schwulenbewegung usw. über Pädophilie zitiert habe. Die faschistische Regierung der Niederlande will, dass dies entfernt wird, weil diese politischen Parteien nicht wollen, dass man ihre Vergangenheit kennt!

Ich warte immer noch darauf, dass Menschen, Meinungsmacher, Wissenschaftler, Journalisten und so weiter sich dagegen aussprechen und für die grundlegenden Menschenrechte eintreten. Im Moment sind die Niederlande wie Polen, Ungarn, Russland und China: eine Diktatur!

Legale Zeitschriften, die von den Faschisten beschlagnahmt wurden, werden mir nicht zurückgegeben, weil ich sie für eine illegale Tätigkeit verwendet habe: das Zitieren von Texten.

Die Leugnung des Holocausts ist in den Niederlanden ebenfalls ein Verbrechen, aber Sie können beweisen, dass der Holocaust stattgefunden hat. Ich kann beweisen, dass alles, was ich jemals gesagt habe, mit wissenschaftlichen Artikeln bewiesen werden kann. Ich habe nichts erfunden. Ich habe die Studien nicht durchgeführt. Ich spreche nur die Wahrheit. Wenn die Wahrheit zu einem Verbrechen wird, wissen Sie, dass die Menschenrechte auf schreckliche Weise verletzt werden, und die Täter wissen das; deshalb machen sie es illegal, die Menschen darüber zu informieren. Wenn ich aus einem wissenschaftlichen Artikel zitiere, dass es negative und positive pädosexuelle Beziehungen gibt, sagt der Staatsanwalt, ich würde sagen, dass es positive Beziehungen gibt. Wenn ich jemanden zitiere, der sagt, er habe eine solche positive Erfahrung gemacht, dann sagt der Staatsanwalt, ich würde sagen, dass es positive Beziehungen gibt. Ihrer Ansicht nach dürfen sie nicht existieren, und andere zu zitieren ist ein Verbrechen. Sie sind diejenigen, die die Wahrheit nicht respektieren.

Das einzige, was man heutzutage sagen darf, ist ‚Sieg Heil‘, wie in den 1930er Jahren. Die Wahrheit ist ein Verbrechen. Ehrlich, freundlich und nett zu sein, ist ein Verbrechen. Ich mache mir Sorgen um die Menschenrechte (für Menschen jeden Alters), und ich darf mich nicht einmal dazu äußern.

Ist dieser Text, den ich gerade geschrieben habe, illegal? No lo sé.

Zum Verständnis:

Der Verein Martijn setzte sich seit 1984 für die Interessen von Pädophilen und der Menschen, die Ihnen am Herzen liegen, ein. Der Verein und seine Vorläufer waren innerhalb Europas die am besten organisierte Gruppierung innerhalb der Pädophilenbewegung. In seiner Hochzeit hatte er meiner Kenntnis nach über 600 Mitglieder. Marthijn Uittenbogaard war in den 2000ern mehrere Jahre lang Vorstandsmitglied.

Aufgrund einer Initiative der Eltern eines Missbrauchsopfers wurde Ende 2011 von der niederländischen Staatsanwaltschaft ein Verbot des Vereins gefordert. Am 27. Juni 2012 wurde der Verein in erster Instanz verboten. Der Richter begründete dies damit, dass der Verein sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern verherrliche, und dies eine grundlegende Verletzung der Rechte des Kindes sei.

Der Verein legte Berufung ein. Mit Beschluss vom 2. April 2013 hob das Berufungsgericht Arnhem-Leeuwarden den Beschluss des Bezirksgerichts Assen auf und lehnte den Antrag auf Auflösung des Vereins ab. Es folgte eine weitere Berufungsverhandlung am Obersten Gerichtshof, die am 18. April 2014 zum Verbot des Vereins führte. Eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde 2015 für unzulässig erklärt, womit der Rechtsweg ausgeschöpft und der Verein endgültig verboten war.

Das damalige Vereinsverbot ist aus meiner Sicht ein katastrophales Fehlurteil, das ich mir nur mit enormem politischen und gesellschaftlichen Druck auf eigentlich unabhängige Richter erklären kann. Für mich steht es als Fehlurteil gleichberechtigt neben dem Schandurteil des Ersten Senats des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 10.05.1957 mit dem damals das Verbot von einvernehmlichem gleichgeschlechtlichen Sex zwischen Männern für verfassungsgemäß erklärt wurde.

Welche gesetzliche Grundlage nun zur Verurteilung von Marthijn Uittenbogaard führte, ist mir nicht bekannt. Ich weiß, dass es in der Niederlande Bestrebungen gab, die „Verherrlichung von Pädophile“ als Straftatbestand (ähnlich der Holocaust-Leugnung) unter Strafe zu stellen, ich weiß aber nicht, was aus diesen Plänen geworden ist. Es scheint hier eher so zu sein, dass Marthijn Uittenbogaard vorgeworfen wurde, durch sein persönliches pädoaktivistisches Engagement den 2014 verbotenen Verein quasi weiterzuführen.

Mit dem Urteil wird in der Niederlande einer Einzelperson, die als pädophiler Aktivist erkennbar ist, das Zitieren wissenschaftlicher Studien verboten, die für den Zeitgeist „unerträgliche“ Ergebnisse liefern. Die Person, an der nun ein Exempel statuiert wurde, war aufgrund ihrer früheren Tätigkeit für den Verein Martijn aufgrund des Vereinsverbots ein vergleichsweise leichtes Ziel. Aber dabei dürfte es nicht bleiben. Schon heute gilt: wer als pädophil erkennbar ist, kann sich in der Niederlande nicht mehr engagieren, ohne Angst vor staatlicher Willkür haben zu müssen.

Vom Mut der anderen

Dass Wladimir Putin bereit ist, über Leichen zu gehen, steht außer Frage. Bei einem ehemaligen KGB Agenten muss das nicht unbedingt verwundern.

Er unterscheidet sich in dieser Eigenschaft aber nicht grundlegend von US Präsidenten wie George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump oder Joe Biden. Bush hat Massenvernichtungswaffen im Irak als Kriegsgrund gegen den Irak erfunden. Geschätzte Folgen in vernichteten Menschenleben: 400.000 bis 1.000.000 im Zeitraum 2003 – 2011. Es schaffte damit auch die Voraussetzungen für die Entstehung des Islamischen Staates. Der Krieg gegen Afghanistan wurde von Bush wegen der verweigerten Auslieferung von Osama Bin Laden begonnen. In Afghanistan kamen von 2001 bis 2021 ca. 200.000 Menschen um. Barak Obama hat im „Krieg gegen den Terror“ zehnmal mehr Bomben von Drohnen abwerfen lassen als Bush. Die Zahl an Drohnenangriffen und zivilen Opern von 8 Jahren Obama übertraf Trump bereits nach den ersten 9 Monaten seiner Amtszeit. Auch unter Biden geht der Drohnen-Krieg weiter. Auch Folter-Gefängnisse wie Guantanamo, die jeder rechtsstaatlichen Kontrolle entzogen sind, werden weiter betrieben.

Immerhin sind Saddam Hussein, Osama Bin Laden oder die Taliban vorher als Massenmörder aufgefallen, Wladimir Selenski lediglich als Schauspieler, Komiker, Regisseur und Gewinner der ersten Staffel von „Tanzen mit den Stars“ in der Ukraine im Jahr 2006. Dass die USA demokratisch legitimierte Regierungen stürzen und ihre Staatsmänner ermorden ließ, ist zumindest etwas länger her (1973 Putsch in Chile und Ermordung von Salvador Allende, danach 15 Jahre Pinochet-Diktatur mit tausenden ermordeten und gefolterten Menschen).

Julian Assange, der es sich zu schulden kommen ließ, öffentlich zu machen, wie amerikanische Soldaten lachend aus einem Helikopter auf Zivilisten schießen, wurde, mit falschen Vergewaltigungsvorwürfen und Psychoterror überzogen und sitzt seit mehreren Jahren in Auslieferungshaft. Seit 2010 haben alle US-Regierungen unter Obama, Trump und Biden an seiner Verfolgung festgehalten. Das erschüttert für mich doch ein wenig die Glaubwürdigkeit der Empörung dieser Stellen über die Behandlung russischer Journalisten.

Putin handelt aus seiner Sicht vermutlich in der Tradition von „Helden“ der Geschichte wie Alexander der Große, Caesar, Karl der Große, Iwan der Schreckliche oder Napoleon. Allesamt Massenmörder und nach heutigen, teils auch nach damaligem Standard, Kriegsverbrecher, um die es großartige Erinnerungskulte gibt. Das slawische „kral“ für König ist linguistisch auf Karl den Großen zurückzuführen, die Worte Kaiser und Zar gehen auf Caesar zurück. Wenn für den künftigen persönlichen Ruhm und zur künftigen imaginierten Größe Russlands Menschen sterben müssen, dann nimmt Putin das in Kauf, so wie es Jahrtausende lang auch andere historische Persönlichkeiten immer wieder getan haben. Es sind immer wieder die vermeintlich höheren Zwecke, die sich als Straße zur Hölle entpuppen und tausendfaches oder millionenfaches Leid verursachen.

Das alles erklärt vielleicht einiges (aus seiner Perspektive: warum sollte Putin nicht tun dürfen, was die Amerikaner und andere Großmächte seit Alters her immer wieder getan haben), aber rechtfertigt nichts.

Nur weil man den Schmutz im eigenen Nest beklagt, ist man kein Nestbeschmutzer. Das sind die, die im oder aus dem eigenen „Nest“ Schaden an anderen Menschen verursacht haben. Man relativiert dadurch nichts und wird auch nicht blind für die vielleicht noch schlimmeren Verbrechen anderer. Um die Pressefreiheit im „Westen“ steht es tausendmal besser als in Russland oder China. Eine systematische Bombardierung von Zivilisten wie durch die Russen in Aleppo oder jetzt in Mariupol haben sich die Amerikaner meiner Kenntnis nach in den letzten Jahrzehnten nicht zu schulden kommen lassen.

Wer Putin ist, und dass er völlig skrupellos ist, war schon immer erkennbar. Es wurde unmittelbar zu Beginn seiner nationalen politischen Karriere in seiner Bombardierung Grosnys deutlich. Er wurde am 09. August 1999 russischer Ministerpräsident und befahl am 01. Oktober 1999 den Einmarsch in den damals separatistischen Landesteil Tschetschenien. Als Reaktion auf einen Terroranschlag in Moskau – erinnert ein wenig an 9/11 und Afghanistan. Als Putin fertig war galt die tschetschenische Hauptstadt Grosny als die am meisten zerstörte Stadt der Welt.

Heute hat mit Ramsan Kadyrow ein treuer Vasall Putins das Sagen in Tschetschenien. Der gab 2015 zu Protokoll:: „Solange mich Putin unterstützt, kann ich tun, was ich will.“ Die Schwulenverfolgung in Tschetschenien mit Verhaftungen, Folter und Ermordungen wäre ohne Billigung Putins undenkbar.

Unter Putin häuften sich die Fälle ermordeter Regimekritiker, Oppositioneller und Journalisten. Er ist auch dafür verantwortlich, dass in Russland seit 2017 häusliche Gewalt entkriminalisiert wurde. Alles, was gegenüber „nahen Angehörige“ wie dem Ehepartner, den Kindern, Adoptivkindern, Eltern, Großeltern, Enkel oder Geschwister geschieht bleibt straflos, solange es keine bleibenden Schäden verursacht. Körperverletzung in der Familie ist eine Ordnungswidrigkeit, die mit mit Geldbußen bis zu 30.000 Rubel (aktuell ca. 185 Euro) oder mit Ordnungshaft bis zu 15 Tagen geahndet wird. Im Wiederholungsfall mit Arrest bis zu drei Monaten.

Menschen, die die „Sonderaktion“ in der Ukraine „Krieg“ nennen, droht in Russland dagegen neuerdings bis zu 15 Jahre Haft. Und dennoch gibt es in Russland Menschen, die auch nach dieser Gesetzesänderung öffentlich gegen den Krieg protestieren und ihn als Krieg benennen. Die Menschen im Video marschieren an der Isaakskathedrale in St. Petersburg vorbei und rufen „Nein zum Krieg!“.

Leider muss man davon ausgehen, dass sehr viele der Demonstranten später verhaftet wurden. Die Aufnahme scheint vom 06.03. zu stammen. Der Spiegel meldete am Morgen danach 1.150 festgenommene Demonstranten in St. Petersburg.

Und wie steht es um unseren Mut?

Zum Vergleich: 15 Jahre ist die höchste in Deutschland mögliche „zeitige“ Freiheitsstrafe. Darüber gibt es bei uns nur noch „lebenslänglich“, was in Deutschland im statistischen Durchschnitt 18.9 Jahre Haft bedeutet.

Seit dem 01.07.2021 droht die zeitige Höchststrafe von 15 Jahre in Deutschland auch bei „sexuellem Missbrauch von Kindern“. Die Höchststrafe für dieses Delikt lag zuvor (von 01.01.1872 bis 30.06.2021) bei 10 Jahren. Die Strafandrohung gilt für alle sexuelle Handlungen mit Kindern, egal ob willentlich einvernehmlich oder nicht. Eine Meinungsäußerung ist in Deutschland dagegen (noch) nicht strafbar. Auch nicht wenn es um die Diskriminierung von Pädophilen oder die Kritik an bestehenden Schutzaltersgrenzen geht.

Trotzdem geht von ca. 250.000 Pädophilen, von denen viele das Gefühl haben, dass der Staat Krieg gegen sie führt, und den wohl noch viel zahlreicheren Hebephilen niemand auf die Straße. Wenige Ausnahmen von Einzelpersonen wie Dieter Gieseking in Deutschland oder Marthijn Uittenbogaard in den Niederlanden bestätigen die Regel.

Den Mut der Menschen, die da in Russland auf die Straße gehen, kann man gar nicht hoch genug einordnen. Sie haben sogar noch mehr zu verlieren als wir. Sie nehmen es in Kauf. Unser Mut wirkt dagegen klein und verzagt.

Corona Exkurs – und meine Schlussfolgerungen für den Umgang mit Pädophilie

Im Grunde hat mich die Corona-Pandemie nicht sonderlich beeindruckt. Die Einschränkungen, die mit ihr verbunden sind, sind zwar teils unangenehm, oft treffen sie mich aber gar nicht. Die Einschränkungen, die ich als Pädophiler seit Jahrzehnten in meinem Leben fühle, sind für mich viel entscheidender und einschneidender.

Es gibt aber durchaus Personen, die durch Corona-Einschränkungen richtig hart getroffen wurden, auch nach meinem Maßstab. Wer etwas einen Partner jenseits einer wegen Corona geschlossenen Grenze hatte, war schon sehr hart getroffen. Besonders berührt hat mich der Bericht über eine in Belgien lebende Australierin. Sie kam zurück in ihre alte Heimat, um ihre todkranke Mutter noch einmal zu sehen. Während sie in Quarantäne war, starb die Mutter, ohne dass sie sie noch einmal sehen durfte – sie durfte die Quarantäne nicht verlassen! Danach durfte sie nicht mehr aus Australien raus! Zu ihrer Familie, ihren Kindern, ihrem Haus, ihrem Job in Belgien. Sinn dieser Regelung war vermutlich, dass Auslandsaustralier erst gar nicht wieder temporär in Australien einreisen.

Irgend eine Begründung findet sich für grausame und unmenschliche Vorschriften und Gesetze immer. Das bedeutet freilich nicht, dass man die Politiker, die für derartige Regelungen verantwortlich sind, wiederwählen muss.

Ab und an habe ich über den Umgang mit Corona in Deutschland geärgert. Als Masken für unnötig und unwirksam befunden wurden (wohl vor allem, weil man keine hatte) und sie dann später zur Pflicht wurden.

Später wieder, als Andrea Tandler für die Vermittlung von Maskendeals 48 Millionen Euro Provision einstrich (und anscheinend nicht richtig versteuerte). Ihr Vater, Gerold Tandler, war Generalsekretär der CSU, als er sich privat 700.000 DM von Eduard Zwick lieh. Er wurde später bayrischer Innenminister und dann bayrischer Staatsminister der Finanzen. Von diesem Posten musste er im Jahr 1990 im Zuge der Flick-Affäre zurücktreten, nachdem das bayerische Finanzministerium eine Steuerschuld Zwicks in Höhe von 71 Millionen DM gegen eine Zahlung von 8,3 Millionen DM niedergeschlagen hatte (also auf fast alle Forderungen freiwillig verzichtete).

Andrea Tandler nutzte für ihre Maskengeschäfte die guten Kontakte zur Strauß-Tochter Monika Hohlmeier, die sich bei Gesundheitsminister Spahn für den Deal einsetzte (für Jüngere: Strauß war früher Ministerpräsident in Bayern, der es (angeblich) irgendwie geschafft hat, vom Gehalt für seine Politiker-Tätigkeit 360 Millionen DM auf einem geheimen Auslandskonto anzusparen und an seine Kinder zu vererben). Nach Franz Josef Strauß wurde 1992 der Flughafen München benannt. Seine Tochter, Monika Hohlmeier, sitzt zur Zeit Abgeordnete im EU-Parlament und ist unter anderem Mitglied im Sonderausschuss gegen organisiertes Verbrechen, Korruption und Geldwäsche (!).

Auch der Ehemann von Gesundheitsminister Spahn hat für seinen Arbeitgeber Maskendeals eingefädelt. Johannes Laschet, der Sohn von NRW-Ministerpräsident Laschet, half seinem Arbeitgeber bei einem Maskendeal mit Nordrhein-Westfalen. Provisionen sind angeblich nicht geflossen. Aber vielleicht wird sich ja jemand erkenntlich zeigen, wenn irgendwann Wahlen und/oder Ämter verloren gehen (ist ja bereits passiert) und etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Hunter Biden, der Sohn des amtierenden US-Präsidenten, ein Hobby-Maler, kann seine Bilder ja inzwischen auch für bis zu 500.000 USD pro Bild verkaufen. Vielleicht haben Spahn und Laschet ja auch talentierte Familienmitglieder.

Eine sechsköpfige Gruppe um Alfred Sauter (CSU, ehemaliger bayrischer Justizminister) und Georg Nüsslein (CSU, ehemals stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion) verdiente 11.5 Millionen Euro durch Provisionen im Zusammenhang mit Maskengeschäften. Der CDU Bundestagsabgeordnete Nikolas Löbel kam nur auf 250.000 EUR, der CDU Bundestagsabgeordnete Mark Hauptmann auf 7.5 Millionen EUR.

Ich habe vor genau einem Jahr, am 04. Januar 2021, schon einmal einen Corona-Exkurs geschrieben. Einer meiner damaligen Kritikpunkte war das Geschwafel, man werde Geimpften keine Privilegien einräumen. Erstens handelte es sich nicht um Privilegien, sondern die Rücknahme von Einschränkungen von Freiheitsrechten. Zweitens, war mir schon damals sofort klar, dass es genau diese „Privilegien“ geben würde, spätestens sobald jeder die Chance auf einen Impftermin bekommen hatte, schon um den Druck auf Ungeimpfte zu erhöhen. Ich werde nicht gerne belogen und in diesem Fall habe ich die Lüge erkannt, als sie ausgesprochen wurde.

Später fing man mit indirektem Impfzwang an (bis hin zur Abschaffung kostenloser Corona-Tests, was die Pandemie-Lage deutlich verschlechtert hat) und beteuerte gebetsmühlenartig, eine allgemein Impfpflicht werde es nicht geben. Jetzt ist sie in Vorbereitung – weil es eine harmlosere Virusvariante gibt, die sich schneller verbreitet. Eigentlich ein Segen, da die natürliche Immunität durch das Immunsystem des Menschen nach durchgestandener Erkrankung der Immunität durch eine Impfung in der Regel überlegen ist (so wie Muttermilch künstlicher Babynahrung überlegen ist – siehe die Kampagne „Nestlé tötet Babys“, die 1974 dazu führte, dass Nestlé seine irreführende Werbung gegenüber Müttern durch als Krankenschwestern getarnte Verkäuferinnen von Babynahrung zumindest teilweise einstellte).

Ich habe mich auch geärgert, als rauskam, dass in Hamburg Statistik-Daten gefälscht wurden, um den Anteil der Ungeimpften an den Infizierten höher erscheinen zu lassen. Durch eine Anfrage einer FDP-Abgeordneten kam heraus, dass bei fast 70 Prozent der Coronafälle nicht eindeutig war, ob die infizierte Person geimpft oder ungeimpft war. Diese Infektionen wurden einfach in der Gruppe der Ungeimpften aufgeführt. Das gleiche passierte auch in Bayern. So etwas untergräbt komplett das Vertrauen in die Seriosität offizieller Statistiken.

Ich finde es ungehörig, wenn die Ständige Impfkommission bedrängt wird, doch endlich die Impfungen für Kinder zu empfehlen, weil besorgte Eltern so dringend darauf warten, dass die Kinderimpfung kommt, um dann Zeter und Mordio („unverantwortlich“) zu schreien, wenn der Vorsitzende der Stiko sagt, dass er sein eigenes Kind aufgrund fehlender Daten derzeit nicht gegen Corona impfen lassen würde und anzuprangern, dass er damit die Öffentlichkeit und Eltern verunsichere.

Die Stiko ist für manche anscheinend dafür da, brav (und zackig) das zu sagen, was man gerade hören und woran man selbst glauben will. Undifferenzierte Empfehlungen, die Sicherheit nur vorgaukeln, wären aber genauso falsch wie immer wieder geforderte bundesweit einheitliche Regelungen bei einem regional extrem unterschiedlichen Infektionsgeschehen. Wer Ungleiches gleich behandelt nimmt sehenden Auges unnötige wirtschaftliche und soziale „Kollateralschäden“ billigend in Kauf. Es werden ständig Beruhigungspillen gefordert und verschrieben, ohne sich um die Nebenwirkungen ernsthaft Gedanken zu machen.

Ich habe mich auch geärgert, als bekannt wurde, dass auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) falsch wiedergegeben wurde. In der Einleitung für eine als „Entscheidungshilfe für Eltern und Sorgeberechtigte“ betitelten Broschüre hießt es: „Die Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut empfiehlt die Impfung mit einem mRNA-Impfstoff für alle Kinder und Jugendlichen zwischen 5 und 11 Jahren und ab 12 Jahren.“ Das ist falsch. Tatsächlich heißt es in der Stiko-Empfehlung: „Eine allgemeine Impfempfehlung der STIKO für nicht vorerkrankte Kinder von 5-11 Jahren besteht derzeit nicht.“ Auf die Diskrepanz angesprochen meinte der Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums: „Der Anteasertext auf der Homepage ist möglicherweise etwas ungenau, das schauen wir uns noch einmal an.“

Bezeichnend fand ich auch einen Bericht auf BR24 zur Impfpflicht:

Die Corona-Impfpflicht, die nur auf den Gesundheitssektor beschränkt ist, habe „katastrophale“ Auswirkungen auf die Altenpflege von Bad Kissingen bis Kitzingen. So heißt es in einem offenen Brief, in dem sich die Altenpflege-Einrichtungen von Arbeiterwohlfahrt (AWO), Caritas und Diakonie an die Landtags- und Bundestagsabgeordneten in der Region Main-Rhön wenden.

Sie schlagen Alarm, „weil impfunwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Pflegeberuf aufgeben und sich eine Arbeit dort suchen wo keine Impfpflicht besteht“, schreibt Jochen Keßler-Rosa, der Geschäftsführer der Diakonie in Schweinfurt in dem Brief.

Erste Kündigungen liegen laut dem Brief bereits vor. Bei der Diakonie hätten etwa zwei Mitarbeiter gekündigt. „Viele Mitarbeiter reden darüber, die Lage ist wirklich heikel“, sagte Keßler-Rosa gegenüber BR24. Bereits an Weihnachten komme es zu Lücken im Dienstplan. „Bereits jetzt können Pflegeeinrichtungen auch bei freiwerdenden Betten und ausscheidenden Haushalten keine neuen Bewohner und Bewohnerinnen oder Patienten und Patientinnen mehr aufnehmen oder zu Hause pflegen“, heißt es in dem Brief.

Wenn jemand lieber seinen Job aufgibt, als sich impfen zu lassen, muss derjenige schon extrem schwerwiegende Bedenken gegen eine Impfung haben. So jemand hält das Risiko durch eine Impfung für größer als das Risiko einer Infektion. Die Impfpflicht führt dazu, dass er seinen bisherigen Lebensentwurf über den Haufen wirft und lieber neu anfängt.

Das Einfühlungsvermögen des Geschäftsführer der Diakonie in Schweinfurt für diese subjektive Notlage liegt im negativen Bereich. Seine „Lösung“ ist, dass man ein Entrinnen verunmöglicht und die Person als letzte Option vielleicht auch noch in eine Auswanderung treibt. Die Mitarbeiter, die aus ihrem Beruf gedrängt wurden, werden nicht wie Menschen behandelt, sondern wie kaputt gegangene Pflegemaschinen.

Wer „impfunwillig“ ist, ist nicht einfach ein bockiges Kind, das man zu seinem Glück (und dem der Gesellschaft) eben zwingen muss, sondern jemand, der damit Existenzängste verbindet. Die Antwort, die dem Staat dazu einfällt ist ein „und bist du nicht willig, dann brauch ich Gewalt.“ Ich finde das asozial und in Anbetracht der im vergleichsweise geringen Mortalität auch verfassungswidrig.

Offiziell wurden (Stand 02.01.2022) 7.19 Millionen Corona-Infektionen in Deutschland gezählt, die Zahl der Gestorbenen wird mit 112.155 angegeben. Das ist eine Letalität von etwa 1.5 Prozent. Dieser Wert ändert sich, wenn man die Dunkelziffer nicht erkannter Infektionen berücksichtigt. Sie wurde in der Vergangenheit im Bereich von 40 bis 87 Prozent geschätzt. Wenn man 50 Prozent annimmt, würde das die Mortalitätsrate auf 0.75 Prozent absenken. Bei einer schweren Grippewelle liegt die Mortalität bei 0.5 Prozent. Da das Corona-Virus der Zukunft (Omikron-Variante) weniger gefährlich ist als das der Vergangenheit (Wildtyp, Alpha- und Delta-Varianten) und aufgrund milderer, teils ausbleibender Symptome häufig unbemerkt bleibt, liegen wir absehbar in Zukunft unter dem Letalitätswert bei einer schweren Grippe. Corona wird perspektivisch zum ernst zu nehmenden, aber im Grunde „normalen“ Erkältungsvirus. Und doch verhalten wir uns immer noch so, als lauere hinter jeder Ecke die Pest.

In Anbetracht des Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes (Recht auf körperliche Unversehrtheit) steht es dem Staat meiner Meinung nach nicht zu, Menschen durch ein Bußgeld in einer Höhe, die letztlich einer Nötigung gleichkommt (= Drohung mir einem empfindlichen Übel), dazu zu bewegen, ein abstraktes Lebensrisiko (Krankheitsschaden) gegen ein anderes abstraktes Lebensrisiko (Impfschaden) zu tauschen.

Wenn man jetzt meint, legitim eine Corona-Impfpflicht einführen zu dürfen, dann dürfte man ebenso allen Menschen etwa das Rauchen verbieten. Stattdessen wird gerade – aus meiner Sicht zu Recht – die Legalisierung von Cannabis diskutiert. Man müsste Menschen mit krankhaftem Übergewicht (Adipositas), die weitere Kalorienzufuhr verbieten und Leute, die sich nicht genug bewegen, unter Androhung eines Bußgelds zu Leibesübungen verpflichten.

Den Möglichkeiten der irgendwie sinnvoll begründbaren Bevormundungen und irgendwie zu rechtfertigenden Einschränkung von Freiheitsrechten sind im Grunde keine Grenzen gesetzt. Aber wollen wir wirklich in so einer Gesellschaft leben?

Wer einen „Spaziergang“ macht, wird in den Medien regelmäßig als angehender Rechtsradikaler verunglimpft. Zuletzt wurde sehr kritisch über einen Fall berichtet, bei dem ein vier Jahre altes Kind Pfefferspray abbekommen hat, als seine Mutter versuchte, eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen.

Ich habe etwas Zweifel, ob das Wort „durchbrechen“ die Situation richtig wiedergibt. Wie will eine Mutter mit vierjährigem Kinder eine Absperrung durchbrechen? Wäre dafür nicht eher so was wie ein Panzer erforderlich?

Ich finde die Kritik, man solle Kinder nicht als „Schutzschild“ missbrauche, durchaus gerechtfertigt. Aber man sollte es auch bleiben lassen, mit Pfefferspray herum zu sprühen, wenn vierjährige Kinder in der Nähe sind, egal wie sie dort hin gelangt sind. Dieser Aspekt fehlt mir in der Berichterstattung.

Ich habe aber auch Zweifel an der Grunddeutung des Vorgangs. Aus der Berichterstattung der Tagesschau:

An der unangemeldeten Demonstration in Schweinfurt hatten Polizeiangaben zufolge etwa 2500 Menschen teilgenommen. Teilweise kam es zu aggressiven Ausschreitungen. Mehrere Polizeibeamte wurden verletzt. Die Polizei setzte teils Schlagstöcke und Pfefferspray ein. In eine Pfefferspray-Wolke geriet auch die Mutter mit dem vierjährigen Kind, als sie eine Polizeiabsperrung überwinden wollte.

Vielleicht wollte die Mutter nicht quasi-terroristisch eine Polizeiabsperrung durchbrechen, sondern einfach sich und ihr Kind in Sicherheit bringen, als das, was vermutlich als friedliche, stille Meinungskundgebung gedacht war, irgendwie in eine Gewaltsituation eskaliert ist.

Ich finde das bewusste Mitnehmen von Kindern als Schutzschild ebenso falsch wie ich es falsch fände zu fordern, man möge Kinder doch bitte zu Hause lassen, damit man Schlagstock und Pfefferspray beherzter einsetzen kann. Ich unterstelle weder, dass die Mutter das Kind als Schutzschild mitgenommen hat, noch dass die Polizei von langer Hand den Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray geplant hat. Auf jeden Fall erwarte ich mir aber von ausgebildeten Beamten (den Polizisten und der Einsatzleitung) mehr Disziplin und Voraussicht als von einem durchschnittlichen Demonstranten.

Gehören Kinder wirklich nicht auf Demos? Oder kommt es vielleicht doch auf das Thema und seine aktuelle gesellschaftliche Reflektion an?

Geteilt via ZDF.de

Die Bildquelle ist ein Artikel über Gorleben auf den ZDF Seiten des Kindermagazins Logo. Die dortige Bildunterschrift lautet „Auch Kinder waren dagegen“.

Ich halte das für zweifelhaft. Das abgebildete, noch ziemlich junge Kind war sicher nicht dabei, weil es aus eigener Überzeugung gegen Atomkraft war, sondern weil es eben von seiner Mutter zur Demo mitgenommen wurde, die ihm vielleicht noch „Atomkraft ist böse“ eingetrichtert hat. Auch auf Anti-Atomkraft Demos konnte es damals zu Gewalt kommen.

Hier der gute Protest mit Kindern gegen Atomkraft. Dort der böse Protest mit Kindern gegen Corono-Beschränkungen. Es wird mit zweierlei Maß gemessen.

Ich bin weder Impfgegner noch Impfbefürworter. Ich tendiere eher dazu mich an die Mehrheitsmeinung der Schulmedizin zu halten und die Impfung dementsprechend für relativ sicher und das Impfrisiko für relativ gering zu halten. Dass es dennoch ein Impfrisiko gibt (z.B. Myokarditis), ist aber nicht von der Hand zu weisen. Auch wenn man es vielleicht persönlich für so gering hält, dass es einem vernachlässigbar scheint, bedeutet das noch lange nicht, dass man von anderen Menschen erwarten darf, dass sie es ebenfalls für vernachlässigbar halten.

Neben der schulmedizinischen Mehrheitsmeinung gibt es eine teils durchaus auch laute schulmedizinische Minderheitsmeinung, die sich mit unterschiedlichen Begründungen gegen die Sinnhaftigkeit (von Elementen) der aktuellen Corona-Strategie wendet. Dazu gehören etwa Aerosolforscher, die Ausgangssperren und Maskengebote im Freien kritisieren, oder Virologen, die vor ADE (Antibody dependent enhancement = infektionsverstärkende Antikörper) warnen oder meinen bereits Anzeichen dafür in den Daten zu erkennen.

Mich stört es, wenn diese Wissenschaftler von Politik und Medien als Scharlatane und Quacksalber dargestellt und abgebügelt werden. Das ist aus meiner Sicht unwissenschaftlich. Zur Wissenschaft gehört auch der Meinungsstreit zwischen wissenschaftlich begründeten Aussagen. Mein Eindruck ist, dass der Glaube der Mehrheit aktuell als Dogma gesetzt wird, dem nicht widersprochen werden darf. Mit Wissenschaft hat das für mich nichts zu tun.

Dass es sich bei den Statistik-“Pannen“ und der falschen Elterninfo zur Stiko-Empfehlung wohl nicht um zufällige Fehler handelte, wurde mir klar, also ich vor kurzem auf einen Tweet von Gesundheitsminister Lauterbach aufmerksam wurde. Er antworte damit auf den folgenden Tweet von Florian Krammer, Professor für Impfstoffkunde an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai:

Lauterbachs Reaktion:

Es ist also nach Meinung unseres Gesundheitsministers völlig OK und legitim, wenn man Menschen mit einem Etikettenschwindel in die irre führt, indem man ihnen ein X (rekombinanter Proteinimpfstoff = künstliche Version des Spike-Proteins) für ein U (Totimpfstoff = ganze, inaktivierte Viren) verkauft, wenn es dazu führt, dass sie dann das machen, was man von ihnen haben will (hier: sich impfen lassen).

Mich kotzt das an. Wie kann man sich so verhalten (Masken erst als sinnlos, dann als unverzichtbar darstellen; Freiheitsrechte zu „Privilegien“ erklären; Statistiken fälschen; die Stiko-Empfehlung falsch wiedergeben; Wissenschaftler, deren Meinung nicht passt, mit untergriffigen Methoden diskreditieren; einen Proteinimpfstoff wissentlich irreführend als Totimpfstoff anpreisen) und sich dann ernsthaft über Verschwörungstheorien wundern? Es passt nicht zusammen, wenn man erst alles dafür tut, das Vertrauen in einen verlässlichen, ehrlichen Staat zu untergraben (siehe auch Maskendeals) und sich dann über das Ergebnis beklagt.

Das Problem sind immer Überzeugungstäter. Menschen, die glauben, es besser zu wissen und Gutes zu tun und die meinen Täuschung, Lüge usw. seien durch gute Absichten bzw. das, was man für eine gute Tat oder ein höheres Ziel hält, gerechtfertigt.

Die Corona-Pandemie und der Umgang mit ihr durch Medien, Politik und Wissenschaft hat mir das aktuell noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt. Vor allem aber: Corona betrifft extrem viele Leute. Auch wenn die Einschränkungen für mich wie eingangs gesagt eher gering sind, für andere sind sie gefühlt gewaltig. Und dennoch kommen die „Guten“ mit ihren Lügen durch.

Im Grunde hat mir der Umgang mit Corona zwei Dinge gezeigt.

Erstens: Wenn etwas nicht ins Weltbild passt, werden Argumente nicht gehört, egal wie gut sie sind (ja, es gibt auch schlechte Argumente, die nicht gehört werden – aber nicht alle Argumente von „Impfskeptikern“ sind ausnahmslos schlecht).

Zweitens: wir leben in einer Gesellschaft, die Risikovermeidung zu ihrem Fetisch gemacht hat. Die Vermeidung eines gefühlten Risikos rechtfertigt jede noch so bescheuerte Bevormundung.

Beide Punkte lassen für „mein“ Thema, das Thema dieses Blogs, nichts Gutes erahnen.

Es wäre vermutlich völlig egal, ob es irgendwann eine Studie gibt, die wissenschaftlich fundiert und „unumstößlich“ belegt, dass willentlich einvernehmliche Sexualkontakte für Kinder unschädlich sind. Das Ergebnis würde einfach ignoriert werden, so wie die Baurmann-Studie erst ignoriert und dann sogar „einkassiert“ wurde, weil sie nicht zum vorherrschenden Weltbild passte.

Ein anderes Beispiel dazu ist die Meta-Studie von Rind, Tromovitch und Bauserman aus dem Jahr 1998. Die Wissenschaftler kamen bei der Auswertung von 59 wissenschaftlichen Studien zu dem Ergebnis, dass der durch sexuellen Missbrauch von Kindern verursachte Schaden nicht unbedingt intensiv oder allgegenwärtig war.

Die Studie wurde im Psychological Bulletin, der Zeitschrift der APA (amerikanische psychologische Gesellschaft, der mit knapp 130.000 Mitgliedern weltgrößte Psychologenverband) veröffentlicht. Die methodische Korrektheit der Meta-Studie wurde später (nach einer Bitte um unabhängige Überprüfung von Seiten der APA) von der American Association for the Advancement of Science, der weltweit größten wissenschaftlichen Gesellschaft bestätigt.

Genutzt hat es nichts. Das Ergebnis der Meta-Studie wurde als so skandalös empfunden, dass sie von den beiden Kammern des amerikanischen Parlaments (vom Repräsentantenhaus mit 355 zu 0 Stimmen, vom Senat mit 100 zu 0 Stimmen) verurteilt wurde. Das ist ein bis heute einzigartiger Vorgang.

Jedenfalls soweit es die Neuzeit betrifft. Galileo Galilei wurde 1633 von der katholischen Inquisition dazu gezwungen seine Theorien – er hatte das kopernikanische astronomische Modell vertreten – zu widerrufen. Dadurch, dass er seinen Fehlern abgeschworen, sie verflucht und verabscheut hatte, ist der Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen entkommen und wurde nur zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt. Tatsächlich wurde er bis zu seinem Tod im Jahr 1641 unter Hausarrest gestellt.

Was als wahr gilt, muss nicht wahr sein. Das kopernikanische astronomische Modell hat sich durchgesetzt. 1992 wurde Galileo Galilei mit deutlicher Verspätung rehabilitiert. Es soll auch niemand sagen, wir hätten uns seitdem nicht weiterentwickelt. Immerhin hat man Rind, Tromovitch und Bauserman nicht mehr mit dem Scheiterhaufen bedroht.

Die heutigen Dogmen (wie die behauptete Unmöglichkeit von Einvernehmlichkeit aufgrund einer entwicklungspsychologische Unfähigkeit von Kindern zur Einwilligung oder die wie die Seelenmord-Erzählung) sind mindestens so unantastbar, wie damals das geozentrische astronomische Modell.

Auch unter dem Aspekt der Risikofixierung der heutigen Gesellschaft ist ein Sinneswandel kaum vorstellbar. Ob das Risiko real ist, spielt keine Rolle. Es geht um das gefühlte Risiko und das Image der Gefährlichkeit wurde Pädophilen in Jahrzehnten der Hetzkampagnen geradezu auf die Haut geschweißt.

Aktuell reicht ein vorgestelltes Risiko, dass die Nutzung einer Sexpuppe mit kindlichem Erscheinungsbild einen Pädophilen vielleicht animieren könnte, mehr zu wollen und einem Kind gegenüber übergriffig zu werden, ohne jeden Beleg für diese These aus, um Pädophilen scheinbar legitim eine der letzten Kompensationsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Sexualität mit Androhung einer Freiheitsstrafe weg zu nehmen.

Vor fast drei Jahren habe ich einen bemerkenswerten Artikel in der FAZ gefunden und weggespeichert, um ihn irgendwann einmal in einem Artikel zu verwerten:

Es gibt epochale Revolutionen in der Wissenschaft, die auf fatale Weise unbemerkt bleiben, und es könnte sein, dass uns dies auch aktuell gerade widerfährt. Wie tragisch solche Fälle sein können, dokumentiert eine Entdeckung von Antoni van Leeuwenhoek aus den Frühzeiten der Mikroskopie. Schon am 17. September 1683 fertigte er Zeichnungen von Mikroben an. Obwohl damals durchaus bereits Theorien einer Verbreitung von Krankheiten von Mensch zu Mensch vorlagen, dauerte es nicht weniger als zweihundert Jahre, bis man die entscheidenden Schlussfolgerungen zog. Als Joseph Lister 1867 die Hypothese aufstellte, die hohe Sterberate nach Operationen werde durch Infektionen verursacht, war dies noch ein Schenkelklopfer der Zunft. Man wusch sich nicht vor, sondern nach Operationen die Hände. John Hughes Bennett, ein führender Mediziner der Zeit, meinte dazu: „Wo sind diese kleinen Biester? Zeigen Sie sie uns, und wir werden daran glauben. Hat sie bisher schon irgendwer gesehen?“

Man sah es also, aber man verstand es nicht.

Zweihundert verschwendete Jahre mit unzähligen vermeidbaren Toten!

Das kann einen traurig machen. Es kann einem die Hoffnung nehmen. Wenn sich niemand für die Wahrheit interessiert, ist die Anstrengungen und das Bemühen um die Wahrheit dann nicht sinnlos?

Man sieht es, aber man versteht es nicht, weil man es nicht verstehen will:

Eine Besonderheit gibt es noch, wenn es um pädophile Täterstrukturen geht: Die sexuelle Gewalt ist dort eingebunden in ein Fürsorgeverhalten. Da geht es oft um Kinder, die vorher schon einen großen Mangel an elterlicher Zuwendung erlebt haben. Dann kommt zum Beispiel ein Stiefvater und gibt dem Kind, was es eigentlich braucht: Liebe, Zuwendung und Zeit. Danach hat der Täter leichtes Spiel (…)

Interview mit dem Psychologen Martin Janning

Höchstwahrscheinlich ist er sich zunächst nicht bewusst, dass er ein Opfer ist. Manche Opfer sind einfach bereit, Sex gegen Aufmerksamkeit, Zuneigung und Geschenke einzutauschen und glauben nicht, dass sie Opfer sind. Der Sex selbst kann sogar genossen werden. Der Täter behandelt sie vielleicht besser, als sie sonst jemals von jemandem behandelt wurden.

„Child Molesters: A Behavioral Analysis – For Professionals Investigating the Sexual Exploitation of Children“
von Kenneth V. Lanning, Seite 75.(eigene Übersetzung)

(Ein ganz wichtiger prognostischer Faktor, der etwas darüber aussagt, ob sein ein Kind gut entwickelt oder schwierig wird ist) „One caring person“. Das ist eine Person, idealerweise eine erwachsene, bei der das Kind das Gefühl hat, dieser Mensch interessiert sich für mich, diesem Menschen bin ich wirklich ein Anliegen. Das kann ein Elternteil sein oder ein Großelternteil, das kann jemand in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft sein, eine Tante oder ein Onkel. Es ist dabei überhaupt nicht wichtig, ob das ein Mann oder eine Frau ist.

Interview mit dem Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer

Glaubt man nun den ‚Fall‘-Geschichten, die von den Propagandisten pädophiler Beziehungen präsentiert werden, dann scheint es kaum Belege für negative ‚Nebenwirkungen‘ zu geben. Im Gegenteil: Alles scheint für derartige Beziehungen zu sprechen.(…) Muß man nicht einen Mann verteidigen, der sich um einen emotional vernachlässigten und sozial isolierten Jungen liebevoll kümmert? (…) wenn zudem, was durchaus glaubwürdig klingt, das Sexuelle von den betroffenen Jungen oft noch positiv geschildert wird? (…) Dieses Argumentationsmuster beschreibt eine der typischen Rationalisierungen in der Pädophiliediskussion. (…) Gerade weil ich aus prinzipiellen Gründen genital-sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern als Herrschaftsverhältnis ablehne, habe ich Schwierigkeiten, Erfahrungen einzuordnen, die für das Gegenteil einer Herrschaftsbeziehung zu stehen scheinen.

Günter Amendt, Nur die Sau rauslassen?, in: konkret. Sexualität, H. 2 (1980), S. 23–30

Zuneigung, Liebe und körperliche Anziehung aktivieren typischerweise zum prosozialen Einsatz für den anderen Menschen. Bei Pädophile erfolgt eine Umdeutung von Fürsorge und Hinwendung zu Herrschaft und Missbrauch. Prosoziales Verhalten wird aus prinzipiellen Gründen antisozial gedeutet. Unter dem Einfluss von Dogma und Glauben ist nicht mehr relevant, was man sieht, sondern das, was man „dahinter“ erkennen will.

Es gibt (erschreckend viele) Eltern, die ihre Kinder misshandeln, die sie körperlich vernachlässigen oder emotional missbrauchen. Trotzdem ist aber nicht das typische Bild, das wir von Eltern haben. Eltern haben einen Vertrauensvorschuss. Die Gesellschaft unterstellt, dass den Eltern das Wohl des Kindes in aller Regel mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution. Weil sie ihre Kinder lieben. Bei allen Unzulänglichkeiten und Fehlern, bekommen die meisten Eltern das auch tatsächlich „hinreichend gut“ hin. Schlechte, nicht mehr „hinreichend gute“ Eltern gibt es, aber sie sind die Ausnahme.

Es gibt Pädophile / Hebephile, die Kindern sexuell motiviert missbrauchen. Aber das ist nicht mein Bild von einem typischen Pädophilen / Hebephilen. Bei allen individuellen Schwächen und Fehlern, die der Mensch mitbringt: auch eine körperliche Anziehung will nicht den Schaden des anderen, sondern will sich binden und dem anderen gut tun. Sie will nicht missbrauchen, sondern sucht Einvernehmen.

Ich bin davon überzeugt, dass nur ein ganz geringer Bruchteil der Beziehungen einen missbräuchlichen Charakter hätte, wenn man willentlich einvernehmliche Beziehungen zulassen würde. Und: wenn diese Beziehungen nicht versteckt werden müssen, würden Beziehungen, die einen missbräuchlichen Charakter haben, viel schneller auffallen. Ich gehe mit großer Sicherheit davon aus, dass sich die allermeisten Pädophilen / Hebephilen in der Realität als „hinreichend gut“ herausstellen würden. In der öffentlichen Darstellung wird die Ausnahme des schlechten, nicht mehr „hinreichend guten“ Pädophilen als Regelfall hingestellt und ins Monströse überzeichnet. Im Ergebnis gelten Pädophile automatisch als für Kinder gefährlich. Sie sind mit einem geradezu unüberwindlichen Misstrauensvorschuss konfrontiert.

Damit stellt sich der Umgang mit Pädophilie für mich als strukturelle Gewalt dar. Die offizielle Definition dazu:

Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.

Diese strukturelle Gewalt trifft nicht etwa nur die Pädophilen / Hebephilen, die diskriminiert, geächtet, stigmatisiert werden und die sexuell und emotional unerfüllt bleiben, ohne dass dies notwendig wäre, sondern auch Kinder, denen dadurch eine „caring person“ fehlt, die biologisch, von Mutter Natur veranlasst, bereitwillig Aufmerksamkeit, Fürsorge und Hinwendung zu geben bereit wäre.

Die Corona-Epedemie und der gesellschaftliche Umgang mit ihr hat mich in Hinblick auf das Thema Pädophilie / Hebephilie sehr ernüchtert und auch entmutigt. Im Grunde scheint da nichts zu machen zu sein.

Der Grund dafür ist vor allem die Deutungsmacht der Überzeugungstäter, die mit gutem Gewissen für die vermeintlich gute Sache lügen. Wenn etwa Fr. Ursula von der Leyen im Jahr 2008 (damals Familienministerin, heute Präsidentin der Europäischen Kommission) eine angebliche (in Wirklichkeit nicht existente) milliardenschwere Kinderpornoindustrie ins Feld führte, um eine Netzzensur durchzusetzen, tat sie das nicht aus Bösartigkeit. Sie hat aus rechtschaffener Überzeugung gehandelt.

Ähnliches gilt für Protagonisten wie Ursula Enders, wenn sie behauptet bei Wirklichkeit gehe es bei Pädophilie gehe es um schlimmste Formen der Unterwerfung und Folter, oder Alice Schwarzer, wenn sie Gewalt an sich als für Männer lustvoll besetzt darstellt und behauptet „so manchem Mann“ gehe es nur um „Domination, Demütigung und Gewaltausübung. Sie wollen erniedrigen, foltern, ficken.“

Auch Menschen wie David Finkelhor (Erfinder des „informed consent“), Prof. Beier von „Kein Täter werden“, NRW Innenminister Herbert Reul oder Johannes-Wilhelm Rörig (Unabhängiger Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs) halte ich für wohlmeinende Überzeugungstäter, die lügen und die Wirklichkeit verzerren, weil sie entweder glauben, was sie sagen, oder doch zumindest glauben, mit dem, was sie sagen, einem guten Zweck zu dienen.

Wie soll man gegen diese extrem einflussreichen, von ihrer Sache überzeugten Hassprediger, ihre Anhänger und Nacheiferer ankommen? Im Grunde ist es hoffnungslos.

Aber: irgendwann hat man die Welt der Mikroben eben doch (wieder)entdeckt und begonnen sie zu verstehen. Und nicht jede Erkenntnis braucht zweihundert Jahre, um sich durchzusetzen.

Es ist wie mit dem Berg, den es zu versetzen gilt. Einer alleine schafft es nicht. Die Aufgabe scheint unmöglich. Aber trotzdem wurden schon Berge versetzt und werden auch in Zukunft Berge versetzt werden.

Vielleicht muss man sich einfach von der Vorstellung verabschieden, dass man selbst mehr als ein Schubkarrenladung zum Werk beitragen kann.