Kriminologische Erkenntnisse zu sexueller Einvernehmlichkeit und ihren Folgen

In meinem Artikel zum Thema „Fehlentwicklungen im Kinderschutz“ habe ich beklagt, dass es keine kriminologischen Untersuchungen dazu gibt, wie viele Fälle tatsächlicher sexueller Gewalt (im Sinne von Nötigung, Körperverletzung oder Vergewaltigung) es gegen Kinder tatsächlich gibt.

Statt die Realität so wahrzunehmen, wie sie ist, und sich mit ihr auseinanderzusetzen, wird das Problem definitorisch (also durch Sprachmanipulation) gelöst:

Bei unter 14‐Jährigen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie sexuellen Handlungen nicht zustimmen können – sie sind immer als sexuelle Gewalt zu werten, selbst wenn ein Kind damit einverstanden wäre.

Johannes-Wilhelm Rörig,
Unabhängiger Beauftragter für Fragen
des sexuellen Kindesmissbrauchs

Dies ist aber lediglich eine subjektive Wertung, keine objektive Bestandsaufnahme.

An der Wahrnehmung der Realität objektiv gewaltloser, einvernehmlicher sexueller Handlungen hat in Politik oder in Kinderschutzorganisationen niemand ein ernsthaftes Interesse, denn damit würde man die dort gepflegte Skandalisierungs- und Kriminalisierungsstrategie angreifbar machen.

Tatsächlich stimmt es allerdings nicht, dass es keine aussagefähigen kriminologischen Untersuchungen gibt. Die Realität wurde schon einmal wissenschaftlich erfasst und analysiert. Das Ergebnis hat Politik und Kinderschutzorganisationen allerdings nicht gefallen. Also wurde es ignoriert.

Autor der Studie „Sexualität, Gewalt und psychische Folgen“, erschienen in der Forschungsreihe des BKA, Band 15, aus dem Jahr 1983 ist Michael Baurmann, seinerzeit Psychologe im Wiesbadener Bundeskriminalamt. Baurmann ist ein renommierter Opferforscher, Mitbegründer der Operativen Fallanalyse im BKA, war Leiter des Fachbereichs Kriminologie und zuletzt Wissenschaftlicher Direktor. Kein Leichtgewicht also.

Die Studie selbst ist sehr umfangreich und umfasst 791 Seiten. Das Literaturverzeichnis umfasst 52 Seiten mit ca. 500 Autoren und Quellenangaben.

Die eigentliche Studie besteht aus einer viktimologischen Untersuchung von 8.058 Opfern von Sexualdelikten:

Ausgangspunkt der viktimologischen Untersuchung war eine vierjährige Fragebogenaktion (1969-1972) bei nahezu allen Sexualopfern, die im Bundesland Niedersachsen bei der Polizei bekannt wurden. Opfer waren bei dieser Untersuchung also Personen, die selbst deklariert hatten, Opfer geworden zu sein, oder Personen, die von anderen als Opfer deklariert worden waren. (Beide werden als „deklarierte Opfer“ bezeichnet.) Die weiblichen Sexualopfer waren bis zu 20 Jahre, die männlichen bis zu 14 Jahre alt. Damit wurde der zahlenmäßig bedeutsamste Teil der deklarierten Sexualopfer befragt. Die Aussagen dieser 8058 deklarierten Sexualopfer aus der Totalerhebung wurden viktimologisch ausgewertet und sind von überregionaler Bedeutung. Schlüsse aus der Untersuchung sind nicht auf Niedersachsen zu beschränken.

In einem zweiten Schritt wurden in einer „Panel Study“ 112 zufällig ausgewählte Sexualopfer aus dem Total gebeten, an einer Nachuntersuchung teilzunehmen. Diese Nachuntersuchung fand im Einzelfall sechs bis zehn Jahre nach der Opfer-Deklaration (Anzeige) statt, und zwar in den Jahren 1979 und 1980. Die Nachuntersuchung bestand aus einem weitgehend standardisierten Tiefeninterview, in das bewährte psychodiagnostische Testverfahren und viktimologische (Begriffserläuterung „Viktimologie“) Fragestellungen integriert waren. Diese Gespräche wurden im Haus des deklarierten Sexualopfers geführt. Die Interviewer waren weibliche und männliche Psychologen.

Schließlich wurden in einem dritten Schritt die Gerichtsakten von 131 Sexualdelikten aus einer anderen Region untersucht. Bei diesen Fällen war es also nicht nur zur Anzeige bei der Polizei, sondern auch zu einer Verurteilung vor Gericht gekommen. Bei dieser viktimologisch orientierten Aktenanalyse wurden nur Fälle herangezogen, bei denen ein ausführliches psychologisches Glaubwürdigkeitsgutachten vorlag. Diese Fälle waren zu einem vergleichbaren Zeitpunkt geschehen wie die Fälle des Totals. Der Zweck dieses dritten Untersuchungsschritts war der Vergleich zwischen den lediglich angezeigten Sexualkontakten und den verurteilten. Fast alle bisher bekannten Untersuchungen hatten sich hingegen ausschließlich mit verurteilten Sexualkontakten beschäftigt.

Auszüge aus der Studie, kann man im Internet hier (Link) finden.

Ich zitiere daraus nachfolgend einige aus meiner Sicht besonders relevante Passagen, von denen die wichtigsten von mir in Fettschrift hervorgehoben sind:

Sexualdelikt ist nicht gleich Sexualdelikt

Personen, die als Opfer von gewaltlosen Sexualstraftaten bekannt werden, erleben, daß die Umwelt dem Tatbestand oftmals mehr Bedeutung beimißt, als sie es selbst tun würden, und sie haben später kaum noch Einfluß auf die Bewertung des indizierten Sexualkontakts. Betrachtet man die Aussagen von Personen, die als Sexualopfer bekannt wurden, näher und zieht die psychodiagnostischen Untersuchungen bezüglich der Opferschäden heran, dann muß man feststellen, daß diese Personen nur zum Teil als Opfer bezeichnet werden können und sich selbst häufig auch nicht als Geschädigte empfinden.

Die empirisch nachweisbaren, verschiedenen Falltypen im Bereich der sogenannten Sexualdelikte unterscheiden sich so erheblich voneinander, daß man sie nicht mehr länger als zu einer homogenen Straftatengruppe gehörig betrachten sollte.

Die drei wesentlichsten zu unterscheidenden Gruppen lassen sich folgendermaßen beschreiben:

  1. Mißbrauch von Personen als sexuelle (Ersatz-)Objekte und zur Machtdemonstration, vorwiegend gegenüber weiblichen Opfern (sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, sowie entsprechende Mißbrauchshandlungen mit Kindern);
  2. Nichteinhalten von Sexualnormen, die das Alter und/oder das Geschlecht der Sexualpartner betreffen (gewaltlose sexuelle Kontakte mit Kindern, gewaltlose homosexuelle Kontakte zwischen Männern und Jugendlichen);
  3. Verstoß gegen Normen, die ein bestimmtes Sexualverhalten (z. B. in der Öffentlichkeit) als anstößig definieren (Zeigen des Gliedes und Masturbation in der Öffentlichkeit).

Die unkritische Vermischung dieser drei Gruppen, verbunden mit ängstlichen Einstellungen gegenüber der Sexualität, verhindert die dringend notwendige rationale Diskussion über abweichendes Sexualverhalten. Wenn in den Medien über die Gruppe der Sexualdelikte berichtet oder wenn ein Einzelfall dargestellt wird, dann enthalten solche Veröffentlichungen häufig vorurteilsbehaftete, emotionale Meinungsäußerungen, die sehr wenig mit der Realität zu tun haben. Solche Veröffentlichungen zeigen, daß sowohl die Autoren als auch die Leser beim Thema „abweichendes Sexualverhalten“ oftmals Vorstellungen haben, die von diffusen Ängsten und Vorurteilen bestimmt sind. Immer wieder werden dann erschreckende Einzelfalle herangezogen, um zu belegen, daß die bekannte Angst (z. B. vor dem „fremden Mann“) doch berechtigt ist. Viele andere Fälle, die zeigen könnten, daß die wirklich großen Gefahren hingegen zahlenmäßig geringer sind und außerdem an Stellen lauern, an denen man sich Sicherheit wünscht (z. B. Gewalt in der Familie), werden bewußt und unbewußt übersehen bzw. heruntergespielt. Damit bleiben ängstliche Vorurteile und angstmachende Fehlmeinungen erhalten.

(…)

Straftaten ohne Opfer – primäre und sekundäre Viktimisation

Bei der Betrachtung der Auswirkungen von Sexualstraftaten auf das deklarierte Opfer fällt auf, daß viele angezeigte Sexualkontakte gar keinen Schaden beim jeweiligen deklarierten Opfer anrichten. Daraus folgt, daß die unkritisch gebrauchten Begriffe .Opfer“ und „Geschädigte“ für einen großen Teil der Menschen, die als Sexualopfer registriert werden, unangemessen ist. Die Worte „Opfer“ und „Geschädigte“ suggerieren wie selbstverständlich, daß die Personen geschädigt sind. Dies traf aber für viele der hier befragten Personen, die als Opfer bekannt wurden, gar nicht zu. Einige von ihnen waren erst sekundär Opfer geworden, weil sie die negativen Auswirkungen von Vorurteilen und die Anwendung des Instruments des Offizialdelikts zu spüren bekamen. So ist es auch nicht verwunderlich, das sich nur ein geringer Teil der zahlenmäßig großen Gruppe der kindlichen Sexualopfer selbst für eine Anzeige entschied. Dementsprechend wurden auch die meisten Anzeigen von den Eltern aufgegeben. So geschieht es, daß Kinder, die sich nicht geschädigt fühlen, trotzdem als „Geschädigte“ behandelt werden. Manchmal werden sie dann im Laufe des weiteren Verfahrens von vorurteilsbehafteten Erwachsenen (die sie eigentlich schützen wollen) tatsächlich geschädigt (z. B. sekundäre Viktimisation durch Dramatisierung, Anzweifeln der Glaubwürdigkeit, Zuweisung einer Mitschuld usw.). Wegen dieser Probleme wurden hier hilfsweise die Begriffe „deklariertes Opfer“ (Person, die irgendwie als Opfer bekannt wird), „selbstdeklariertes Opfer“ (Person, die sich selbst als Opfer bezeichnet bzw. deklariert), „fremddeklariertes Opfer“ (Person, die von anderen, z. B. von den Eltern, den Instanzen der sozialen Kontrolle als Opfer bezeichnet wird) und „perzipiertes Opfer“ (Person, die sich selbst als Opfer empfindet) verwendet.

Wenn man die angezeigten Sexualkontakte speziell unter dem Schadensaspekt betrachtet, dann muß man konstatieren, daß bei etwa 34% der untersuchten deklarierten Opfer größere Schäden beobachtet werden konnten. Bei weiteren 18% waren leichtere Schäden festgestellt worden.

Etwa 48% der Personen, die als „Geschädigte“ registriert worden waren, berichteten von keinen oder nur minimalen Schäden. Sie perzipierten sich selbst auch nicht als „Geschädigte“ oder als Opfer einer primären Viktimisation. Unter den angezeigten Sexualkontakten befindet sich – gemessen an den primären schädlichen Auswirkungen auf das deklarierte Opfer – tatsächlich ein sehr großer Teil von Straftaten ohne Opfer, wenn man die subjektive Einschätzung der direkt betroffenen Personen ernst nimmt. Einige der mittlerweile meist erwachsenen deklarierten Opfer berichteten, daß sie sich zwar durch die inkriminierte Handlung selbst nicht geschädigt fühlten, wohl aber von den anschließenden dramatisierenden Reaktionsweisen der Umwelt (sekundäre Viktimisation).

Um einen besseren Schutz der potentiellen Opfer vor primärer und sekundärer Viktimisation gewährleisten zu können, ist es notwendig, daß Ergebnisse der empirischen Forschung aus den Bereichen Viktimologie, Kriminologie, Sexualforschung, Psychologie und Pädagogik verstärkt veröffentlicht und ernst genommen werden, damit sie umgesetzt werden können in opferfreundliche Reaktionsweisen im Bereich der informellen und formellen Sozialkontrolle. Wissenschaftler der genannten Disziplinen sollten verstärkt Gelegenheit erhalten, die angesprochenen Problembereiche zu erforschen bzw. sich zu diesen Problembereichen zu äußern, wenn überprüfbare Forschungsergebnisse vorliegen.

Das Instrument des abstrakten Gefährdungstatbestandes, angewandt auf gewaltlose, einvernehmliche, gleichwohl strafbare Sexualkontakte trägt nur in einem geringen Teil dieser Fälle zum individuellen Schutz der betroffenen Opfer bei.

Viele der Personen, die in dieser Weise als Opfer deklariert werden, werden erst durch die Existenz bestimmter Gesetze zu Geschädigten.

So fühlte sich ein Fünftel aller traumatisierten Opfer dieser Untersuchung, also unter Einschluß der Gewaltopfer, vordringlich durch das Verhalten der Eltern, der sonstigen Angehörigen, der Lehrer und der Personen aus den Institutionen der Strafverfolgung geschädigt. Demgegenüber konnte beobachtet werden, daß in einer Fallgruppe primäre Schäden nur ausnahmsweise auftraten (Exhibitionismus) und in einer weiteren (gewaltlose, einvernehmliche Sexualkontakte zwischen Kindern und Älteren) selten vorkamen.

Wenn in einer Straftatengruppe die Wahrscheinlichkeit der individuellen Schädigung des deklarierten Opfers sehr gering ist und gleichzeitig deutlich wird, daß die Existenz des Gesetzes sowohl im Strafverfolgungs- als auch im informellen Bereich sekundäre Schädigungen anzurichten vermag, dann sollte eine Art Aufrechnung der sozialen „Kosten“ und „Nutzen“ angestellt werden. Wenn tatsächlich ein Gesetz durch seine bloße Existenz sehr viel Schaden anrichtet und nur sehr selten schützt, dann sollten seine Vor- und Nachteile gewissenhaft und verantwortungsbewußt abgewogen werden und die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.

Bei der Abwägung sollte man sich auch und vor allem wissenschaftlicher Erkenntnismethoden bedienen und sich weniger auf Spekulationen und Ideologien verlassen.

Ganz allgemein ist zu fordern, daß die Bewertung der deliktischen Situation durch das deklarierte Opfer selbst stärkere Beachtung findet.

Vielfach wird übersehen, daß das Opfer seine Schädigung oder Nichtschädigung in der Regel sehr zutreffend beschreiben kann, wenn nur die Befragung frei von störenden Einflüssen gestaltet wird. Aus psychologischer und viktimologischer Sicht ist zu wünschen, daß Wege gefunden werden, um auch mit dem Strafrecht und Strafprozeßrecht angemessener auf die individuelle Viktimisierung eingehen zu können. Kreativen Strafrechtlern sollte es möglich sein, Gesetzesvorschläge zu machen, die die potentiellen Opfer besser schützen, und zwar sowohl vor primären als auch vor sekundären Viktimisationen.

(…)

Mögliche Auswirkungen auf die alltägliche Praxis

(…)

Im „Sittenbereich“ sollten die Bagatelldelikte und die schwere Kriminalität schärfer getrennt werden, damit es in geringerem Ausmaß zu schädlichen Vermischungen bei der Bewertung dieser Deliktsgruppen, bei der alltäglichen Arbeit und bei der Analyse der Sexualdelikte kommt. Zur Optimierung der Arbeit im „Sittenbereich“ sollten verstärkt Schwerpunkte gebildet werden, damit die sexuelle Gewaltkriminalität vorrangig und entschiedener bekämpft werden kann. Die Masse der bisher zu erledigenden Anzeigen nach strafbaren oberflächlichen Sexualkontakten, bei denen kein geschädigtes Opfer bekannt wird, bindet Kräfte, die verstärkt im Bereich der sexuellen Gewaltdelikte eingesetzt werden könnten.

Über die Schäden, die bei Sexualopfern auftreten können, wurde in der vorliegenden Arbeit ausführlich berichtet. Besonders bedeutungsvoll an den Ergebnissen ist, daß die Schäden meist in der Folge von Gewalterlebnissen und manchmal aufgrund von negativen Reaktionen der Umwelt nach dem Delikt auftraten. Da es bei vielen der angezeigten Sexualkontakte überhaupt nicht zur Gewaltanwendung gekommen war, berichtete diese Gruppe der deklarierten Opfer auch selten von Schäden.

Außerhalb des Bereichs der sexuellen Gewalt gibt es eine Reihe von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bei denen keine offene Gewalt angewandt wird. Als Opfer werden hier vorwiegend Kinder, und zwar Mädchen bekannt. Abgesehen von der in solchen Fällen problematischen Gewalt-Definition (Bedeutet ein größerer Altersunterschied zwischen zwei Sexualpartnern automatisch ein Machtgefälle?), gibt es bei dieser Gruppe von bekanntgewordenen Delikten ein spezielles Problem. Einige dieser Kinder, die sich durch die sexuelle Handlung primär nicht geschädigt fühlen – es machte ihnen beispielsweise nicht viel aus, als sich der Gliedvorzeiger zur Schau stellte – erleben dann häufig erschreckende Reaktionen aus ihrer Umwelt, wenn der Vorfall bekannt wird. Entsetzte Eltern, die „das Schlimmste“ befürchten, erschreckte Lehrer, die einen Sexualmörder ahnen, diensteifrige Polizeibeamte, die nicht genügend zwischen der Schädlichkeit von Exhibitionisten und der von Vergewaltigern unterscheiden, sowie Staatsanwälte und Richter, die u. U. den „moralischen Verfall“ unserer Gesellschaft an einem Fall exemplarisch aufhalten wollen, können starke sekundäre Schäden beim Kind in seiner Opfer- und Zeugenrolle auslösen. In diesen Fällen machen die Erwachsenen dem Kind oftmals sogar unterschwellige oder ausgesprochene Vorwürfe. Das Kind glaubt vielfach, es sei in Wirklichkeit der Angeklagte. Bei Glaubwürdigkeitsuntersuchungen empfindet es, daß es als (potentieller) Lügner behandelt wird. Und in den Ämtern erlebt es häufig eine kindungemäße Atmosphäre und auch keine angemessenen Gespräche über den Vorfall. Manche Kinder werden erst nachträglich zum Opfer gemacht. Hier sollten Vorkehrungen zum besseren Schutz der Kinder getroffen werden. Schließlich bekommen sie oft diffuse Ängste und Abscheu vor dem Sexuellen vermittelt. Dies kann ihre sexuelle Entwicklung nachhaltig stören. Sowohl in den Fällen von primären Schädigungen durch die Gewalteinwirkung, als auch in den Fällen von sekundären Schädigungen durch das negative Verhalten der Umwelt nach dem strafbaren Sexualkontakt, empfinden sich die Opfer den Situationen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert.

(…)

Zusammenfassung der Ergebnisse

Die Sexualopfer sind zu 80-90% Mädchen und Frauen. Die hauptsächlich betroffenen Altersgruppen sind je nach Deliktsart unterschiedlich. Beim sexuellen Mißbrauch von Kindern sind annähernd zwei Drittel zwischen 7 und 13 Jahre alt. Im Bereich der Vergewaltigung sind vorwiegend die jungen Frauen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren gefährdet. Das Alter der Frauen, die mit einem Exhibitionisten (Gliedvorzeiger) konfrontiert werden, streut weiter. Dabei sind die jüngeren Altersgruppen etwas stärker vertreten.

Als Beschuldigte und Täter treten fast ausschließlich Männer, und zwar vorwiegend im Alter von 25 bis 35 Jahren, auf. Die immer noch weit verbreitete Vorstellung von einer Mehrzahl älterer und greiser Sittlichkeitstäter ist unzutreffend. Der Altersunterschied zwischen Opfer und Beschuldigtem beträgt im Durchschnitt 25 Jahre, beim erzwungenen Sexualkontakt allerdings nur noch sieben Jahre.

Die Sexualopfer sind also vorwiegend junge Frauen und Mädchen, die von Männern „in den besten Jahren“ bedroht werden.

(…)

Gleichgeschlechtliche Kontakte spielten statistisch und kriminologisch keine wesentliche Rolle bei der Untersuchung. Zum einen machten sie nur 10-15% der Fälle aus und zum anderen waren die beschriebenen sexuellen Handlungen „harmloser“, fast ausschließlich ohne Gewaltanwendung durch den Beschuldigten, und es fühlte sich deshalb auch keines der männlichen Opfer geschädigt. In diesen Fällen konnte auch kein Schaden mit Hilfe der Testverfahren gemessen werden.

(…)

Ganz anders [als bei Exhibitionismus] ist die Lage im Bereich des § 176 StGB (Sexueller Mißbrauch von Kindern). Teilweise werden die Sexualkontakte von den Kindern als nicht so wesentlich betrachtet, manchmal sogar verschwiegen, so daß das Delikt oftmals eher zufällig bekannt wird. Selbst bei schwerwiegenden Delikten in diesem Bereich schrecken die Eltern öfters vor einer Anzeige zurück, weil der Beschuldigte oftmals ein Bekannter ist. In beiden Fällen kann es – aus unterschiedlichen Gründen – leicht zu sekundären Schädigungen beim Opfer kommen, d. h. daß das Kind zusätzlich oder erst durch das Verhalten der Umwelt geschädigt wird, wobei die sekundären Schädigungen nicht selten gravierender sind als die primären.

Insgesamt erklärten 51,8% der Sexualopfer, daß sie sich in irgendeiner Weise in Zusammenhang mit dem angezeigten Sexualkontakt, also primär oder sekundär, geschädigt fühlen oder fühlten. Die empfundene Schädigung bei den geschädigten Sexualopfern dauerte im Durchschnitt 4 Jahre und 8 Monate an. Neben diesen 51,8% geschädigten Sexualopfern – davon zwei Drittel mit erheblicheren psychischen Folgen – gibt es eine große Gruppe von 48,2% der Opfer, von denen keine Schädigung bekannt wurde.

Von vielen Fachleuten wurde bisher angenommen, es gäbe kaum Sexualopfer ohne Schäden. Hier muß sicherlich einiges neu überdacht werden.

Sekundäre Schäden können nach exhibitionistischen und anderen gewaltlosen Sexualkontakten besonders leicht auftreten, wenn das Kind aus einer Familie kommt mit besonders engen sexuellen Einstellungen, aus einer Familie, in der viel Angst gemacht wurde vor dem „Sittenstrolch“, oder aus einer Familie, wo aus allgemeiner Hilflosigkeit und Angst dramatisierend mit der Viktimisierung umgegangen wird. Als weitere Quelle sekundärer Schädigungen können sich die Strafverfolgungsbehörden und auch die Polizei leider nicht ausnehmen. Es ist unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Verbrechensopfers und der Aufklärungsquote bei schweren Sexualdelikten unerträglich, wenn einige Opfer Schaden durch die Strafverfolgung erleiden.

Bezogen auf die angezeigten Sexualkontakte stellte sich heraus, daß von den Sexualopfern als hauptsächliche Ursache für ihre Schäden zur Hälfte die sexuelle Handlung selbst, zu einem Drittel das Verhalten des Beschuldigten und zu je etwa einem Zehntel das Verhalten von Verwandten/Bekannten sowie der Polizei gesehen wurde. Damit ist die Polizei zwar seltener als Hauptursache für psychische Schäden bei Sexualopfern verantwortlich als von mancher Seite her angenommen wurde, aber selbst wenige Fälle sollten hier schon nachdenklich stimmen und zu Verbesserungen bei der polizeilichen Arbeit führen. Bei den verurteilten Fällen konnten die Sexualopfer nicht mehr diagnostisch nachuntersucht werden. Es wird in der Literatur jedoch meist angenommen, daß die Gerichtsverhandlungen aus mehreren Gründen traumatisierende Folgen auf das Sexualopfer haben.

Neben der hauptsächlichen Ursache für den primären oder sekundären Schaden beim deklarierten Sexualopfer, wurden bei der vorliegenden Längsschnittuntersuchung weiterhin die Auswirkungen der Gespräche, die das Opfer mit Personen aus seiner Umwelt führte, erforscht. Die Gespräche mit Freundin, Freund, Geschwister, Lehrer, Psychologen, dem eigenen Rechtsanwalt, dem Sachverständigen und den Interviewern aus dieser Untersuchung wurden eher angenehmer bzw. hilfreich empfunden. Die Gespräche mit Mitschülern und Eltern hingegen wurden im Schnitt als neutral eingestuft. Bei näherer Analyse zeigte sich, daß sich ein Teil der Eltern schädigend, ein anderer Teil dagegen helfend verhalten hatte. Den Eltern kommt in solchen Situationen eine wichtige Rolle zu, weil sie als primäre Bezugspersonen emotional, zeitlich und von den Moralvorstellungen her dem Sexualopfer besonders nahe stehen und somit ganz wesentlich dazu beitragen, ob das Kind, die junge Frau den Vorfall mit oder ohne Langzeitschäden verarbeitet. Die Gespräche mit Ärzten und Beamten von Jugendamt, Polizei und Gericht, sowie mit dem Anwalt des Beschuldigten wurden eher negativ, und zwar meist leicht bis sehr schädigend empfunden. Dabei muß berücksichtigt werden, daß es bei einem Großteil der angezeigten Sexualkontakte gar nicht erst zu einer Gerichtsverhandlung gekommen war. Die Situation des Opfers vor dem Gericht und die Auswirkungen der Verhandlung auf das Opfer bedürfen einer zusätzlichen Analyse.

Die Gespräche mit der Polizei (z. B. bei der Anzeigenaufnahme) erlebten die Sexualopfer durchschnittlich eher negativ, und zwar zwischen „hat keine Wirkung auf mich gehabt“ und „war mir unangenehm, hat mir aber nicht geschadet“. Damit schneidet die Polizei zwar besser ab, als zunächst befürchtet, aber für das Opfer ist diese Situation dennoch verbesserungsbedürftig. Dieses Problem wird auch in fachkundigen Polizeikreisen zunehmend bewußt, nicht zuletzt durch die Öffentlichkeitsarbeit von Gruppierungen, die sich speziell für Opfer einsetzen und deutlich auf vorhandene Mißstände hinweisen (Notrufe für vergewaltigte Frauen, die Frauenhäuser bzw. Häuser für geschlagene Frauen, Kindersorgentelefon, der Weiße Ring u. ä.).

Bei einer statistischen Clusteranalyse, die alle wesentlichen Variablen dieser Untersuchung einbezog, stellte sich heraus, daß die angezeigten Sexualkontakte in drei Gruppen zu unterteilen sind:

1. Gruppe mit 57,1%

Diese zahlenmäßig größte Gruppe enthält die exhibitionistischen und vergleichsweise harmlosen erotischen sexuellen Kontakte mit eher jüngeren Opfern. Darunter sind alle männlichen Opfer. Hier traten ganz selten Schäden auf.

2. Gruppe mit 11,6%

Sie enthält intensivere Sexualkontakte mit mehr bekannten und verwandten Beschuldigten, bei eher sozial gestörten Elternhäusern der Opfer. Ein Teil der (nur weiblichen) Opfer dieses Clusters fühlte sich gar nicht geschädigt, ein anderer Teil lag im Durchschnittsbereich der gesamten Untersuchung.

3. Gruppe mit 31,3%

In ihr sind sexuelle Nötigung, Vergewaltigung und Sexualkontakte mit starker emotionaler Abwehr durch das Opfer enthalten. Die (ausschließlich weiblichen) Opfer waren älter, die Beschuldigten jünger als der Durchschnitt, die Anzeige erfolgte rasch. In diesem Cluster berichteten die Opfer die größten Schäden.

Folgerungen

Den ausschließlich weiblichen Opfern und Zeuginnen aus der Gruppe 3 und eventuell einem Teil aus Gruppe 2 muß in Zukunft mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Politische, präventive und sozialpädagogische Maßnahmen scheinen hier dringend notwendig zu sein.

Bezogen auf die Vorurteile, die gegenüber dem Sexualverbrecher, seiner Tat und dem Sexualopfer bestehen, muß konstatiert werden, daß es das Sexualverbrechen nicht gibt. Vielmehr lassen sich drei Konstellationen deutlich voneinander unterscheiden. Bisher sind Verletzungen der Sexualnormen und sexuelle Gewaltdelikte bei uns aber immer noch in unzulässiger Weise vermischt. Gleichzeitig ist aus anderen Untersuchungen bekannt, daß in der Bevölkerung sehr ambivalente Einstellungen gegenüber der Anwendung sexueller Gewalt bestehen: Neben der formellen Ächtung sexueller Gewalt existiert unterschwellig und oft gleichzeitig eine stillschweigende Tolerierung. Sexuelle Gewalt ist, wie andere Gewalt auch, weit verbreitet. Sie ist, kriminologisch gesehen, mehr dem Bereich der Gewaltdelikte zuzurechnen als dem Bereich der Sexualdelikte.

Für die präventive Arbeit tauchen hier Probleme auf. In einer Gesellschaft, in der Gewaltanwendung häufig als legitimes Mittel zur Durchsetzung von Bedürfnissen angesehen wird, wo gewaltfördernde Denkstrukturen zu beobachten sind, dürfte es schwierig sein, sexuelle Gewaltanwendungen erfolgreich zu ächten. Dieser eher soziologische oder kriminalpolitische Problembereich kann wahrscheinlich nur als Ganzes angegangen werden.

Kurz- und mittelfristig ergibt sich aus den Ergebnissen dieser Längsschnittuntersuchung die dringende Notwendigkeit, gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Opfer von „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ zu ergreifen.

1. Differenzierung

Es sollte darauf hingewirkt werden, daß im allgemeinen Bewußtsein die drei hauptsächlichen Erscheinungsformen klar voneinander getrennt werden:

  • exhibitionistische Handlungen,
  • relativ oberflächliche, gewaltfreie erotische und sexuelle Handlungen,
  • sexuelle Gewalthandlungen und Bedrohungen.

2. Entdramatisierung und Verdeutlichung

In diesem Zusammenhang sollte angestrebt werden, daß durch eine sachliche Aufklärung über die tatsächlichen Erscheinungsformen der Sexualkriminalität und ihre Folgen in einem Bereich (a und b) eine Entdramatisierung stattfindet, während der tatsächliche Gewaltcharakter der anderen Deliktsarten (c) deutlicher ins Bewußtsein gehoben wird. Die Unterscheidung zwischen unangenehmen sexuellen Belästigungen und bedrohenden Gewaltattacken ist zum Schütze potentieller Opfer notwendig. Auch der Vorstellung von der sexualkriminellen Karriere („Aus einem Exhibitionisten wird ein Vergewaltiger.“) muß deutlich widersprochen werden. Wenn sie sich strafbar machen, dann wiederholen Exhibitionisten, Pädophile und Homosexuelle in der Regel die strafbaren Handlungen in ihrem jeweiligen Bereich. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, daß der Vergewaltiger mehr gemein hat mit anderen Gewalttätern und daß die Vergewaltigungssituation eher anderen Gewaltsituationen ähnelt. Demgegenüber üben die Exhibitionisten nur ganz selten Gewalt aus. Diese Aussage hat ganz wesentliche Folgen für die Prävention, Repression, Opferschutz und Opferhilfe, weil auf gewalttätige und gewaltlose Delikte unterschiedlich reagiert werden muß. Die polizeiliche Arbeit kann effektiver und opferfreundlicher gestaltet werden, wenn diese Ergebnisse Eingang finden in die alltägliche Praxis.

3. Informieren der Zielgruppen

Die sachliche Beschreibung der Erscheinungsformen strafbarer Sexualkontakte, ihre Ursachen und Folgen sollte Eingang finden in:

  • eine Verbesserung der Aus- und Fortbildung von Beamten, die beruflich mit Opfern in Kontakt kommen,
  • eine qualifizierte kriminalpolizeiliche Beratungstätigkeit, die zutreffende kriminologische Beschreibungen der Sexualkriminalität an Personen mit pädagogisch fundierter Multiplikatorenwirkung weitergibt,
  • eine sachliche Diskussion über strafrechtliche Bestimmungen,
  • allgemeine Öffentlichkeitsarbeit,
  • eine wissenschaftlich fundierte Sexualpädagogik,
  • eine anzustrebende Information, Aus- und Weiterbildung von Eltern und Erziehern.

4. Koordination

Es sollte angestrebt werden, daß die verschiedenen Institutionen, die mit dem Sexualopfer befaßt sind, besser zusammenarbeiten. Beispielsweise ist dem Opfer selten und Sachbearbeitern nur manchmal bekannt, daß es in vielen Städten bereits qualifizierte Beratungsstellen gibt, die das Opfer in der Krisensituation unterstützen können, wie z. B. Psychologische Beratungsstellen, Sexualberatungsstellen, „pro familia“, Notruf für vergewaltigte Frauen, Frauenhaus, Sorgentelefon für Kinder und Jugendliche, Telefonseelsorge, „Weißer Ring“ und viele andere. Der Sachbearbeiter, der das Opfer z. B. als erster in seiner Opferrolle erlebt, weiß in der Regel nicht, welche der Institutionen im jeweiligen Einzelfall am besten helfen könnte. Hier mangelt es an einem kooperierenden Informationsaustausch.

Bei allen opferunterstützenden Maßnahmen muß streng darauf geachtet werden, dass das Opfer nicht als kranke Person behandelt wird. Eine Psychiatrisierung des Opfers würde beispielsweise eine neuerliche (strukturelle) Viktimisation bedeuten. Ziel opferunterstützender Maßnahmen sollte die Reintegration des Opfers sein, weil es analog dem zu resozialisierenden Täter oftmals Unterstützung benötigt. Ziel einer solchen Reintegration sollte die Stärkung bzw. Wiedergewinnung des Selbstbewußtseins des Opfers sein und möglicherweise die Wiederherstellung des sozialen Friedens zwischen Opfer und Täter über den Weg der Wiedergutmachung. Opferunterstützende Maßnahmen haben jedoch nur einen Sinn, wenn sie gekoppelt sind mit Öffentlichkeitsarbeit, die sich gegen die strukturelle Viktimisation wendet und damit individuelle Viktimisierungen zukünftig verhindern will (präventiver Aspekt).

Für die Öffentlichkeitsarbeit, die Unterstützung des Opfers und die Fortbildung der Beamten sind einige Maßnahmen notwendig, die in der Bundesrepublik Deutschland bisher allerdings noch keinen organisatorischen Rahmen haben:

  • Wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens der sexuellen Gewalt (viktimologische Analyse der sexuellen Gewaltsituation als Kommunikation zwischen Täter und Opfer, psychosoziale Analyse der strukturellen Viktimisation);
  • Öffentlichkeitsarbeit, um das Problem der sexuellen Gewalt zu verdeutlichen;
  • Rückmeldung von opferunterstützenden Einrichtungen an die Mitarbeiter der Behörden;
  • Erarbeitung von entsprechenden Lehrplänen zur Ausbildung von Sachbearbeitern, die Kontakt haben mit stark geschädigten Opfern;
  • viktimologische Fortbildungsangebote für die zuständigen Sachbearbeiter in den Behörden;
  • Beitrag zur opferfreundlichen Kooperation der verschiedenen Institutionen und Beratungseinrichtungen untereinander;
  • Information an das Gewaltopfer in der Krisensituation und Hinweis auf bestehende Einrichtungen;
  • Untersuchungen über die Auswirkungen der Gerichtsverhandlung, des Urteilsspruchs und der damit zusammenhängenden Probleme auf das Opfer;
  • Initiierung einer streng rational gestalteten Diskussion über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Sexualstraftaten), auch insbesondere im Hinblick auf die fällige Strafrechtsreform.

Soweit die Ergebnisse der Baurmann-Studie.

Ich habe bei meiner Recherche auch noch den Hinweis auf eine andere kriminologische Studie gefunden, die mir nicht vorliegt, von der aber der Spiegel im Jahr 1979 wie folgt berichtete: „Eine Untersuchung der Düsseldorfer Polizei ergab, daß von mißbrauchten Kindern 22 Prozent bereits bei der Kontaktaufnahme über die Absicht des Täters im klaren und damit einverstanden waren.“

Vom Ignorieren zum Unterdrücken der Wahrheit

Wie bereits geschrieben: die Ergebnisse waren so nicht gewünscht und wurden ignoriert. Inzwischen sind wir aber einen Schritt weiter. Heute werden die Studie und ihre Ergebnisse aktiv unterdrückt.

Die Studie fiel 2013 (wohl im Zuge der medialen Aufarbeitung der Haltung der Grünen zum Thema Pädophilie in den 80er Jahren) dem Nachrichtenmagazon Focus auf, der darüber berichtete und die Existenz der Studie skandalisierte. Angeblich werde mit der Studie „Pädophilen-Jargon“ übernommen und die „Thesen von Kinderschändern verbreitet“.

Die Focus-Berichterstattung führte natürlich zu empörten Reaktionen von Kinderschützern. Ursula Enders, Gründerin des Opfervereins „Zartbitter“, beklagte die „Ignoranz des BKA gegenüber dem Leid der Opfer“ und warf dem BKA die „Bagatellisierung der Sexualdelikte von Pädosexuellen“ vor. Die Soziologin und Feministin Anita Heiliger sagte: „So etwas darf nicht als angeblich wissenschaftlich verbreitet werden.“

Die Feministin und Herausgeberin Alice Schwarzer („Emma“) unterstellte dem Autor gar „eng mit der Szene der Kinderfreunde verbandelt“ zu sein. Konkret wird ihm vorgeworfen Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS) gewesen zu sein, die sich (lt. Schwarzer) für die Legalisierung einvernehmlicher sexueller Handlungen mit Kindern einsetze. Diese Behauptung über die Positionierung der AHS wurde von der AHS in einer Pressemitteilung übrigens prompt bestritten.

Baurmann selbst sieht sich nicht in Nähe zur Pädophilen-Bewegung. Die verschiedenen Gruppen in der AHS seien relativ automon gewesen. Er habe sich in der Arbeitsgruppe „Männer gegen Männergewalt“ engagiert. Baurmann hat den Verein AHS dann wegen eines Missbrauchs-Strafverfahrens gegen einen AHS-Vorstand verlassen. Hierin kommt meiner Einschätzung nach eine persönliche Missbilligung von entsprechenden Taten zum Ausdruck.

Tatsächlich habe ich bei meiner Recherche Hinweise auf eine ganze Reihe von Sachartikeln von Baurmann zum Thema Männergewalt vorgefunden, was seine Erläuterung zu seinem zeitweisen Engagement bei der AHS sehr glaubhaft macht z.B. „Thesen zum Workshop » Männer wenden sich gegen (ihre) Gewalt «“ von 1991 oder „Die offene, heimliche und verheimlichte Gewalt von Männern gegen Frauen sowie ein Aufruf an Männer, sich gegen Männergewalt zu wenden“, ebenfalls von 1991, oder „Lernen Männer langsam? (in: Gewalt – Thema für Frauen und Männer)“ von 1992 oder „Positionen, Entwicklungen und Perspektiven bei der Arbeit zum Abbau von Männergewalt“ von 1993.

Für seine Studie hat Baurmann insgesamt etwa 500 Autoren und Quellen zitiert und dabei das abgebildet, was im Wissenschaftskosmos vorhanden war. Dazu zählten dann auch Quellen (wie Helmut Kentler oder Frits Bernard), die heute wegen „Verharmlosung von Pädophilie“ vor allem aus ideologischen Gründen abgelehnt werden. Genauso sind dort aber auch Quellen wie Günter Amend und auch Alice Schwarzer vertreten, die sich seit jeher stark anti-pädophil positioniert haben.

Unter dem Druck der Medien und Kinderschutzorganisationen zog das Bundeskriminalamt die Studie, die man bis dahin als PDF von der Seite des BKA herunterladen konnte, zurück und erklärte:

Das BKA wird die Studie Sexualität, Gewalt und psychische Folgen der Forschungsreihe des BKA, Band 15, aus dem Jahr 1983, einer externen wissenschaftlichen Begutachtung unterziehen. Bis zum Abschluss dieser Prüfung wird die Studie von der Homepage des BKA entfernt.

Auch 6 Jahre später ist es bei diesem Text geblieben.

„Schwerste Straftaten“

BKA-Präsident Ziercke betonte 2013 auf FOCUS-Anfrage, die Behörde habe „zu keiner Zeit die Legalisierung sexueller Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern befürwortet“. Jegliches Engagement dafür sei „nicht akzeptabel“. Es gehe um „schwerste Straftaten“.

Die Studie zeigt eindrücklich, dass es tatsächlich schwerste Straftaten bei Fällen von Gewalt gibt. Genauso gibt es aber in erheblichem Umfang auch einvernehmliche Fälle von kriminalisierter, normverletzender aber opferloser Sexualität.

Hierzu braucht man aber im Grunde keine Studie, etwas gesunder Menschenverstand reicht aus.

So hat kürzlich ein Pärchen in München einen 12-jährigen Jungen „missbraucht“ weil es im Außenbereich des Schwimmbeckens Geschlechtsverkehr hatte und dabei zufällig von dem Jungen beobachtet wurde. Nach dem Gesetz sexueller Kindesmißbrauch. Sicherlich ein Fehlverhalten, aber sexuelle Gewalt und „schwerste Straftat“? Ich denke da gibt es Schlimmeres.

Auch 14-jährige und 13-jährige, die altergerecht einvernehmlichen Sex haben, fallen nach aktueller Gesetzgebung unter die „schwersten Straftaten“. Der Ältere wird als Täter sexueller Gewalt kriminalisiert, der Jüngere als Opfer sexueller Gewalt diskriminiert. Diese Rollenverteilung gilt übrigens auch dann, wenn der 13-jährige der aktive Partner und Initiator war und der 14-jährige der passive Partner, der lediglich zuließ, dass sexuelle Handlungen an ihm vorgenommen werden. Er (oder sie) ist dann juristisch gesehen trotzdem Täter und der jüngere, aktive Beteiligte trotzdem Opfer.

Verbote und Ächtung

Im Bereich „Sexueller Missbrauch von Kindern“ ist aktuell politisch nichts gewünscht, was nicht „schwerste Straftat“ ist.

Dies wird deutlich, wenn man sich mit den Änderungen im Sexualstrafrecht beschäftigt.

Der frühere Strafrahmen für minder schwere Fälle (des § 176 Sexueller Missbrauch von Kindern) ist ab 01.04.2004 mit der absurden Begründung gestrichen worden, es sei Tatopfern nicht zumutbar, wenn in der Hauptverhandlung über den Begriff „minder schwerer Fall“ diskutiert werde.

Fischer, Kommentar zum Strafgesetzbuch
66. Auflage von 2019, Seite 1210 Rn. 34

Hierzu passt auch eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 2003, mit der bestimmte Taten aus dem Bereich „sexueller Missbrauch von Kindern“ in einen Katalog von Taten aufgenommen wurden, deren öffentliche Billigung in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften mit Geldstrafe oder Freiheittsstrafe bis zu 3 Jahren Strafe bedroht ist (§ 140 StGB).

Durch Art. 1 Nr. 8 des SexDelÄndG v. 27.12.2003 ist der Tatkatalog im Halbsatz 2 auf die Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach §§ 176 Abs. 3, 176a, 176b, 177, 178 erweitert worden. Durch das StÄG 2016 (Sexualdelikte) wurde die Verweisung geändert. Dass ausgerechnet die öffentliche Propagierung solcher Taten besonders gefährlich sein sollte, drängt sich nicht unbedingt auf.

Fischer, Kommentar zum Strafgesetzbuch
66. Auflage von 2019, Seite 1062 Rn. 5

Die absurde Konsequenz: wenn das „Opfer“ eines „Sexuellen Missbrauchs von Kindern“, zu dem es eine rechtskräftige Verurteilung gibt, die Tat später öffentlich billigt, weil er damals in die Handlung eingewillig hat und die für ihn wichtige und wertvolle Beziehung gegen seinen Willen auf traumatische Weise zerstört wurde, dann macht sich das ehemalige Opfer nach aktueller Gesetzeslage strafbar. Da nicht er selbst, sondern der „öffentliche Friede“ durch das Gesetz geschützt werden soll, hilft es ihm auch nicht, dass er selbst Betroffener bzw. „Opfer“ der gebilligten Tat war.

Die Gegenrede (von Opfern, aber auch von unbeteiligten Pädophilen und ihren Unterstützern) zur Skandalisierung und Kriminalisierung auch einvernehmlicher Sexualkontakte soll so nicht nur geächtet, sondern sogar kriminalisiert werden.

In der Praxis wichtiger als die gesetzlichen Verbote ist die gesellschaftliche Ächtung. „Schönreden“ von Pädophilie oder die Behauptung einvernehmlicher, opferloser Sexualkontakte gilt als skandalöse Grenzüberschreitungen, die eine teils echte, teils demonstrative Abscheu auslöst, die heute allenfalls noch (wenn überhaupt) von einer Holocaustleugnung übertroffen werden kann.

Es gibt ein politisches und wissenschaftliches Denkverbot – das sich in der Praxis auch durchgesetzt hat. Zwei Beispiele dazu:

Die AL-Mitgründerin und ehemalige Berliner Fraktionschefin Renate Künast sagte dem Tagesspiegel, sie könne sich das institutionelle Versagen heute nicht erklären: „Ich kann nur mit Grausen daran denken, was wir Menschen angetan haben, indem wir überhaupt Debatten über die Straffreiheit von Sex mit Kindern zugelassen haben. Im Zuge der großen kriminalpolitischen Reformdebatte haben wir nicht erkannt, dass dabei auch Tabus aufgebrochen werden, die man nicht aufbrechen darf. Es gab einen Mangel an Gefühl dafür, wer schutzbedürftig ist.“

Tagesspiegel:
Warum sich Pädophile bei den Grünen engagieren konnten

Die Leibniz Universität Hannover distanziert sich in aller Deutlichkeit von den Forschungspraktiken und der Person Helmut Kentler. „Ich bin geradezu schockiert, dass sich seinerzeit die Exekutive wie die Judikative davon haben vereinnahmen lassen“, so der Präsident der Leibniz Universität, Prof. Dr. Volker Epping, in seiner Rede auf dem Neujahrsempfang der Universität am 12. Januar 2018. „Ich bin auch völlig irritiert, dass die Fachcommunity dieses Agieren Kentlers nicht kommentiert, nicht aufgeschrien hat!“

Presseinformation der Uni Hannover:
Der Fall Helmut Kentler

Eigentlich beginnt Politik, vor allem aber die Wissenschaft mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Die aber wird heute als dermaßen skandalös empfunden und ist so stark tabuisiert, dass lieber weggeschaut wird.

Zukunftsperspektive

Ich sehe überhaupt keinen Ansatz, dass sich das irgenwann wieder ändern könnte. Aber irgendwann, wird es dennoch dazu kommen.

Es ist in der menschlichen Natur verwurzelt, dass man den, den man liebt oder begehrt regelmäßig nicht etwa vorsätzlich schädigt, sondern dass man ihm hilft und vor Schaden bewahrt.

Es ebenso ist in der menschlichen Natur verwurzelt, dass man regelmäßig keinen Schaden davon trägt, wenn man geliebt wird und sich geliebt fühlt, sondern dass es einem nutzt.

Es liegt dagegen nicht in der menschlichen Natur, dass einem der Pimmel abfällt oder die unsterbliche Seele unheilbaren Schaden nimmt, wenn man freiwillig mit einem anderen Menschen Sex hat.

Dass es einvernehmliche Sexualkontakte – auch zwischen Erwachsenen und Kinder – gibt, ohne dass es dadurch einen Geschädigten gibt, ändert sich also nicht.

Die Bereitschaft von Menschen, sich mit der Wirklichkeit zu beschäftigen, kann sich dagegen sehr wohl ändern. Man muss nur lange genug warten. Vielleicht werde ich es sogar noch erleben – in diesem Fall aber vermutlich zu alt sein, um selbst noch davon zu profitieren. Meine Hoffnung, dass sich zu meinen Lebzeiten überhaupt noch einmal etwas (in eine aus meiner Sicht positive Richtung) ändert, hält sich arg in Grenzen.

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