75 Jahre Grundgesetz

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz erlassen. Am 24. Mai 1949 trat es in Kraft. Ein Meilenstein. Sein Kern:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Es war die Antwort der Mütter und Väter des Grundgesetzes auf die Zeit des Nationalsozialismus. Auf eine Zeit, in der die Würde des Menschen mit Füßen getreten und in der Menschenwürde und Menschenleben brutal zerstampft wurden. Jede Brutalität, jedes Unrecht wurde durch die vermeintlich höheren Ziele der Nationalsozialisten und ihrer Anführer gerechtfertigt, von der versuchten und in erheblichem Ausmaß realisierten Auslöschung ganzer Bevölkerungsteile im Dienst des „gesunden Volkskörpers“ bis zur Verfolgung der zahllosen Einzelnen. Es reichte, das „gesunde Volksempfinden“ zu verletzen, um alles, sein Vermögen, seine Rechte, seine Freiheit und sogar sein Leben, zu verlieren.

Nach einer Gesetzesänderug hieß vom 28. Juni 1935 hieß es im §2 des Strafgesetzbuches:

Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. […]

Wenn man das „gesundem Volksempfinden“ zum Maßstab nimmt, reichen Abscheu und Verachtung aus, um alles zu rechtfertigen, was man den Verachteten antun möchte.

Der kleine böse Rest des Volksempfindens, der sich trotz allem und bis heute im Grundgesetz gehalten hat, ist das „Sittengesetz“. In Artikel 2, Absatz 1 GG heißt es:

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Die Passage ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die (männliche) Homosexualität auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes noch lange kriminalisiert werden konnte. Es ist eine übergriffige und objektiv unnötige Schranke der individuellen Freiheit, die bereits in vielen Leben Schaden angerichtet hat. Wenn es eine Passage im Grundgesetz gibt, die es wert wäre, geändert zu werden, dann wäre es eben diese. Durch den Verweises auf ein „Sittengesetz“, fühlen sich (vermeintlich) moralisch überlegene Menschen sich ermächtigt, in das Leben (vermeintlich) moralisch niedriger stehender Menschen einzugreifen und Ihnen bei ihrem Streben nach Glück Steine in den Weg zu legen. Eine Streichung wäre überfällig.

Im Mittelpunkt des Grundgesetzes steht aber (trotz des unseligen Verweises auf das „Sittengesetz“) der verfassungsrechtlich geschützte Wert- und Achtungsanspruch des Einzelnen. Das Entscheidende dabei ist eben die Unantastbarkeit. Der Schutz ist absolut. Er gilt auch dann, wenn (vermeintlich) überwiegende Interessen anderer Menschen oder der Allgemeinheit auf dem Spiel stehen.

Zum Beispiel wurde der § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), der die Streitkräfte ermächtigte, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, abzuschießen, vom Verfassungsgericht für mit dem Grundgesetz unvereinbar befunden und für nichtig erklärt:

§ 14 Abs. 3 LuftSiG ist auch mit dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) nicht vereinbar, soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.

Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt. (…)

Unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdegarantie) ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten. Die Annahme, dass derjenige, der als Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall verwickelt wird, ist eine lebensfremde Fiktion. Auch die Einschätzung, dass die Betroffenen ohnehin dem Tod geweiht seien, vermag der Tötung unschuldiger Menschen in der geschilderten Situation nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz. Die teilweise vertretene Auffassung, dass die an Bord festgehaltenen Personen Teil einer Waffe geworden seien und sich als solcher behandeln lassen müssten, bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden. Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen, führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. (…) Zur Erfüllung staatlicher Schutzpflichten dürfen nur solche Mittel verwendet werden, die mit der Verfassung in Einklang stehen. Daran fehlt es im vorliegenden Fall.

Wenn es einen ethischen und juristischen Ort gibt, an dem das Totschlagargument „Opferschutz vor Täterschutz“ (Pädophile werden unabhängig von ihren tatsächlichen Taten pauschal als gefährlich eingestuft und Tätern gleichgesetzt) und der Durchsetzungs-Generalschlüssel „Kinderschutz“ zurückgewiesen und eingehegt werden kann, dann ist es eben der unantastbare Wert- und Achtungsanspruch des noch so verachteten Einzelnen und der noch so verachteten Gruppe, zu der er gezählt wird.

Den Schutz des Artikel 1, Absatz 1, die absolute Menschenwürdegarantie, hat in einer beliebigen Zeit stets gerade derjenige am Nötigsten, dem am meisten Abscheu und Verachtung entgegengebracht wird. Zufälligerweise sind das heute Pädophile.

In der Praxis ist es mit der Realisierung dieses Schutzversprechens für die Meistverachteten aber schwierig. Gerichtlich durchsetzen kann man den Schutz nur, wenn man bereit ist, ihn vor Gericht mit seinem bürgerlichen Namen einzuklagen. Das ist angesichts des Stigmas ein hohes persönliches Risiko. Natürlich braucht man neben Mut auch viel Geduld (Verfahrensdauern von 3-5 Jahren sind üblich) und Geld für Anwälte. Auch hierfür würde ich mir eigentlich eine Verbesserung wünschen.

Das Grundgesetz ist nicht perfekt. Aber ich bin froh, dass wir es haben. Und das nicht etwa nur aus Eigeninteresse, auch wenn es ein Eigeninteresse gibt, und seine es nur das Interesse an einer Hoffnung auf irgendwann einmal bessere Zeiten, die ich mit am Grundgesetz festmache.

Für mich ist „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ein Leitsatz im Range eine Glaubensbekenntnisses, mit dem eben nicht nur die jeweils eigene Menschenwürde gemeint ist, sondern ganz klar und unmissverständlich immer auch die Menschenwürde des anderen. Jedes anderen.

Ein Kommentar zu „75 Jahre Grundgesetz

  1. Eine Verfassungsbeschwerde hinsichtlich des Art. 1 GG und damit verbundenen Diskrimminierungsschutzes ist schon seit langer Zeit überfällig. Unabhängig von § 176 ff StGB müssen Pädophile grundsätzlich vor Diskrimminierung im GG geschützt werden. Dazu bedarf es keiner Reform im Sexualstrafrecht. Es geht um den Schutz der sexuellen Identität der Pädophilie. Politisch läuft eine Petition an den Bundestag. Darin wird gefordert, die sexuelle Identität als weiteres Merkmal ins GG aufnimmt, wobei die Pädophile mit eingeschlossen wird.

    Bei Beschwerden an das BVerfG bedarf es mindestens einem namentlichen Beschwerdeführer, der sich wegen seiner Pädophile in seinen Grundrechten verletzt sieht. Eine solche Verfassungsbeschwerde(VB) kann im Prinzip nur dann Erfolgsaussichten haben, wenn diese von einem guten Verfassungsrechtler(Rechtsanwalt:In) eingereicht wird. Diesen zu finden, ist äußerst schwierig bis fast unmöglich. Jedenfalls hatte K13online in anderer Sache bei mehreren Anwälten angefragt gehabt, jedoch Absagen erhalten. Ein weiteres Problem besteht bei den finanziellen Mittel für das Anwaltshonorar, welches bei mehreren Tausend Euro liegt. Dieses könnte nur dann aufgebracht werden, wenn es ausreichende und kollektive Solidarität in der Pädophilenszene & bei Sympathisanten geben würde. Diese Notwendigkeit ist hier jedoch nicht erkennbar. Kann sich aber in Zukunft zum Positiven wandeln…

    Quelle: https://www.krumme13.net/2024/05/bundesverfassungsgericht-pressestelle-24-karlsruher-verfassungsgespraech/

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