Ich bin vor einiger Zeit über das Konzept der hinreichend guten Mutter gestolpert. Erfinder ist Donald Winnicott, ein 1886 geborener englischer Kinderarzt und Psychoanalytiker, der 1971 verstorben ist. Das Konzept ist also keineswegs brandneu.
Aus dem Wikipedia-Artikel zu Donald Winnicott:
In den ersten Monaten ist ein Neugeborenes mit seiner Mutter zu einer Einheit verschmolzen; das Baby nimmt die Mutter als Teil von sich selbst wahr. Dabei geht Winnicott nicht von einer idealisierten Mutter aus, die durch Abweichungen vom Ideal psychoanalytischer Theorien ihr Kind schädigt, sondern führt den Begriff der ausreichend guten Mutter in die Terminologie der Psychoanalyse ein. Die „ausreichend gute Mutter“ („good enough mother“) ist in der Lage, auf die Bedürfnisse des Babys einzugehen, zumindest so weit, dass sich das Baby nie komplett verlassen fühlt. Mit der Zeit löst sich die Mutter aus dieser engen Verbindung, so dass das Kind lernen kann, dass die Mutter nicht Teil von ihm ist.
In diesem Prozess spielt das Übergangsobjekt eine wichtige Rolle. Das kann zum Beispiel der Zipfel einer Decke sein, den das Baby benutzt, um sich in Abwesenheit der Mutter zu trösten. Es gehört für das Kind sowohl zur Mutter als auch zur realen Welt.
Ist die Mutter nicht ausreichend gut, kommt es zur emotionalen Deprivation, was bedeutet, dass das Bild der Mutter im Baby stirbt. Die Deprivation ist eine wichtige Voraussetzung für antisoziales Verhalten, beispielsweise Stehlen, von Kindern. Durch dieses Verhalten versucht das Kind seinen Mangel auszugleichen. Es ist jedoch für den Betreuer wichtig zu wissen, dass dieses antisoziale Verhalten ein Zeichen der Hoffnung des Kindes ist. Ein depriviertes Kind, das keine Hoffnung hat, wird sich scheinbar angepasst verhalten und erst, wenn es wieder Hoffnung hat, wird es antisoziales Verhalten zeigen, also versuchen, seinen Mangel auszugleichen.
Aus einem Artikel bei geborgen-wachsen.de:
Winnicott entdeckte bereits, dass „zu gute Mütter“ (too good mothers) keinesfalls das sind, was Kinder benötigen. Während das Baby am Anfang des Lebens mit seiner Mutter noch ganz verschmolzen und symbiotisch ist und Mütter bestenfalls prompt auf seine Bedürfnisse reagieren, brauchen Babys für ihre Entwicklung jedoch zunehmend auch ein gewisses Maß an Unzufriedenheit für ihre Entwicklung. Winnicott entdeckte, dass Mütter zunehmend weniger und weniger perfekt auf ihr Kind eingehen – und dies parallel zu den wachsenden Fähigkeiten des Kindes, damit umgehen zu können. Das bedeutet: Anfangs reagieren Mütter bestenfalls prompt und richtig auf das Baby. Mit der Zeit reagieren sie aber weniger schnell und lassen das Baby auch mal ein wenig quengeln, wenn es nicht an das Spielzeug heran kommt. Und dies hat eine ganz wichtige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes: Es lernt nämlich dadurch, dass Bedürfnisse nicht sofort erfüllt werden müssen, sondern auch etwas aufgeschoben werden können. Hierdurch kann es auch lernen, sich selbst zu regulieren, weil es eigene Beruhigungsstrategien findet. Das Baby erfährt, wie man mit negativen Gefühlen umgehen kann. Auch kann es hierdurch zur weiteren Entwicklung angeregt werden: Wer sofort alles gereicht bekommt, wenn er etwas quengelt ist nicht darauf angewiesen, sich selbst zu bewegen. Ein gewisses Maß an Unzufriedenheit ist also durchaus als Motor der Entwicklung zu betrachten. Umgekehrt wird einem Baby, dem jeder Wunsch schon von vornherein „von den Augen abgelesen wird“, um die Fähigkeit gebracht, sich selbst zu verstehen. Es lernt keine Selbstwirksamkeit, weil es nicht erfahren kann, dass es sich auch selbst helfen kann und darf. Winnicott findet daher, dass die „good enough mother“ der „too good mother“ gegenüber vorzuziehen ist. Wir müssen also nicht Supermütter sein, sondern einfach nur hinreichend gut!
Doch nicht nur Beruhigungsstrategien und Selbstwirksamkeit lernt das Kind, wenn es im passenden Alter nicht sofort bespielt oder abgelenkt wird, sondern noch etwas ganz anderes Wichtiges: Wenn Mütter einfach normal und sie selbst sind und auch mal schlechte Laune haben oder angespannt sind, weil der Nachwuchs beim Essen das Glas zum dritten Mal über den Tisch gekippt hat, kann das Kind die verschiedenen Facetten von Beziehungen kennenlernen. Jede Beziehung besteht nicht nur aus einem einzigen Gefühl, keine Beziehung ist immer nur freudig und positiv. Kinder müssen auch erfahren dürfen, dass es in Beziehungen verschiedene Gefühle gibt, dass man andere auch mal negativ empfinden kann und sich dann wieder annähert. Wieder vertragen, zusammenfinden, Kompromisse eingehen – all das wird schon in der Babyzeit gelernt. Das ist es, was im Erwachsenenleben so wichtig ist und ein Miteinander erst ermöglicht. Niemand möchte einen Partner haben, auf den man immer selber nur eingehen muss und der nie einen Schritt in die Richtung des anderen geht, weil er es nie gelernt hat. (…)
Kinder brauchen auch Unstimmigkeiten, sie dürfen an Problemen und Herausforderungen wachsen lernen, erfahren, wie man mit Konflikten umgeht und sich wieder verträgt. Und wir Eltern dürfen ihnen auch vorleben, dass sich unser ganzes Leben nicht nur um die Kinder dreht, sondern wir auch eigene Interessen und Wünsche haben.
Wir alle wünschen uns das Beste für unsere Kinder und wir geben das Beste für sie, das wir können. Wir gehen aber auch arbeiten, brauchen auch eigene Freunde. Manchmal reicht das Geld nicht, um teure „Frühförderkurse“ zu bezahlen oder die Zeit ist einfach nicht da. Wenn wir wieder einmal ein schlechtes Gewissen haben, können wir – anstatt uns zu grämen und Vorwürfe zu machen – einfach daran denken, dass wir nicht perfekt sein müssen. Ja, das wir es gar nicht sein SOLLEN. Eine „Supermutter“ braucht kein Kind für eine gesunde Entwicklung. Wir sind gut, ausreichend gut, und wir denken darüber nach, dass wir manchmal auch anders könnten und tun das auch, wenn es möglich ist. Und das ist alles, was zählt.
Dem ist wenig hinzuzufügen.
Mütter sind Menschen und Menschen sind nicht perfekt. Zum Glück. Denn Kinder sind ja auch Menschen und deshalb ebenfalls nicht perfekt.
Perfektion mag gut gemeint sein, ist aber eine riesige Last, nicht nur für einen selbst, weil man um die Perfektion kämpfen und sie sich abringen muss, sondern auch für den vermeintlich Begünstigten. Das Kind einer perfekten Mutter könnte nämlich niemals ausreichend gut sein. Ausreichend gut hieße schließlich, dem Vorbild zu entsprechen und ebenfalls perfekt zu sein.
Wer sich stets um Perfektion bemüht, wird an diesem Anspruch scheitern. Wer immer wieder scheitert, erodiert innerlich, wird unglücklich und infiziert auch seine Umwelt mit dem eigenen Unglücklich-Sein. Statt perfekt und glücklich wird das Leben dann anstrengend und unglücklich.
Ein zu hoher Anspruch gegenüber sich selbst macht auch tendenziell intolerant, da an andere in der Regel ein ähnlich hoher Maßstab angelegt wird, wie an sich selbst: wer hart gegen sich selbst ist, ist meist auch anderen gegenüber hart. Wer sich dagegen zugesteht, auch mal zu scheitern, kann auch weichherzig und verständnisvoll für das Scheitern anderer sein.
Schließlich: auch Fehler haben ihr Gutes. Die Unvollkommenheit einer hinreichend guten Mutter ist wichtig und bereitet auf die Unzulänglichkeiten des Lebens im Allgemeinen vor. Man kann niemanden für das Leben stark machen, indem man ihn vor sämtlichen Belastungen abschirmt, wie sie einem im echten Leben nun einmal zwangsläufig in den unterschiedlichsten Ausprägungen begegnen werden.
Der hinreichend gute Freund
Da die Welt nicht nur aus Müttern besteht, gibt es nicht nur die hinreichend gute Mutter, sondern auch den hinreichend guten Vater, den hinreichend guten Sohn, den hinreichend guten Partner oder den hinreichend guten Freund.
In einer Beziehung ist es nicht wichtig, dass man stets alles richtig macht, sondern, dass man sich engagiert, interessiert und dass der andere Mensch einem ein wirkliches Anliegen ist. Wenn das so ist, macht man fast zwangsläufig genug richtig, dass die Fehler, die man zwangsläufig auch macht, verkraftbar bleiben.
Ich denke das Konzept ist ohne weiteres auch auf BLs wie mich übertragbar und ich finde es ermutigend. Es bietet einen Gegenpol zu allzu übertriebenen Bedenken und erlaubt mir, legitim darauf zu hoffen, dass ich einem Jungen irgendwann einmal ein hinreichend guter Freund sein werde. Jemand, der für den jungen Menschen, den er liebt, einfach sein bestes gibt und dadurch – trotz all seiner Mängel – „gut genug“ ist.
„Perfektion mag gut gemeint sein, ist aber eine riesige Last, nicht nur für einen selbst, weil man um die Perfektion kämpfen und sie sich abringen muss, sondern auch für den vermeintlich Begünstigten.“
Da sind natuerlich noch andere saetze die mich beruehren, aber hier schon scheint es mir als wuerdest du dich selber bekaempfen…
…lassen wir es dabei, aber ich denke ein paar deiner saetze solltest du noch mal ueberdenken um zu sehen ob es nicht andere denkweisen/auswirkungen geben koennten…
…aber wie immer, bin ich viel zu betrunken und dadurch zu muede… vielleicht gelingt schlaf ja mal ohne nachdenken oder traeume…
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„aber hier schon scheint es mir als wuerdest du dich selber bekaempfen…“
Da kann ich dich beruhigen. Das scheint nur so. Ich bemühe mich natürlich schon um Qualität aber Perfektion war nie mein Anspruch.
Danke für deinen Zuspruch! 🙂
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