Sexuelle Hypermoral

Wir leben in einem schizophrenen Zeitalter, in dem Sexualität einerseits so frei wie nie ist, andererseits aber Übertritte über die (immer engeren) akzeptierten Grenzen extrem scharf sanktioniert werden.

Einem Zeitalter, in dem fast alle Andersliebende weitestgehend rechtlich gleichgestellt sind und Diskriminierung geächtet ist, in dem aber gleichzeitig immer neue Straftatbestände erfunden (bzw. Schutzlücken geschlossen) werden und die Höchststrafen für Delikte immer weiter nach oben geschraubt werden.

In dem 12jährige Kinder per Internet Zugriff auf harte Pornographie haben, in dem sich aber ein Paar, dass im Freibad Sex hat und dabei von einem 12jährigen beobachtet wird, des sexuellen Kindesmissbrauchs schuldig macht.

Geächtet wird bereits, wer sich nicht ausreichend empört – oder einfach seinen Job macht.

Robert Sullivan

Robert Sullivan ist einer der hochkarätigsten Anwälte der USA: Er unterrichtet als Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Harvard Law School, einer der renommiertesten juristischen Fakultäten der Welt und leitet dort das Institut für Strafrecht. Er trat bereits im Fernsehen bei den Sendern CNN und Fox News als juristischer Analyst auf und war früher auch Leiter der Pflichtverteidiger-Behörde des District of Columbia, der US amerikanischen Hauptstadtregion. Als Pflichtverteidiger hat er dort keinen einzigen Fall verloren (was wohl auch zeigt, dass es in Amerika extrem darauf ankommt, einen guten Anwalt zu finden).

Sullivan ist Afroamerikaner und setzt sich gegen Rassismus ein. Außerdem führt viele er Pro Bono Fälle, vertritt also ehrenamtlich Menschen, die sich keinen Anwalt leisten können. Das ist an sich in den USA nicht ungewöhnlich. Die amerikanische Rechtsanwaltsvereinigung schreibt in ihren Statuten vor, dass ein Anwalt jedes Jahr mindestens 50 Stunden Pro Bono arbeiten sollte. Sullivan scheint damit nicht zu geizen und dieses (unverbindliche) Soll deutlich zu übertreffen. In seinem Wikipedia Artikel steht jedenfalls, er sei für zahnlose Pro Bono Fälle in ganz Amerika bekannt.

Sullivan ist auch Dean (was etwa der Position eines Dekans entspricht) des Winthrop House, einem Studentenwohnheim der Harvard Universität mit rund 400 Studenten der amerikanischen Oberschicht. Diesen Job allerdings wird er in Kürze verlieren.

Was ist vorgefallen?

Sullivan hatte angekündigt, sich dem Anwaltsteam von Harvey Weinstein anzuschließen. Weinstein war einst quasi-allmächtiger Filmproduzent in Hollywood und soll sich jahrzehntelang der sexuellen Belästigung, sexuellen Nötigung und sogar der Vergewaltigung von Frauen schuldig gemacht haben. Der Weinstein-Skandal war Auslöser der #MeeToo Bewegung.

Nachdem das berufliche Engagement Sullivans bekannt wurde, protestierten Studenten an der Universität Harvard. Sullivan zog sich unter diesem Druck (offiziell wegen „terminlicher Schwierigkeiten“) wieder von dem Verteidigerjob zurück.

Damit war die Sache aber noch nicht ausgestanden. Wegen der weiter anhaltenden „Beunruhigung“ der Studenten, die sich unter dem Sullivan angeblich nicht mehr sicher (!) fühlten, hat sich Harvard entschieden die Stelle des Deans am 30. Juni neu zu besetzen. Ebenfalls betroffen ist Sullivans Frau, die ebenfalls Jura an Harvard unterrichtet und seine Mit-Dekanin war.

Sullivan hat das getan, was man von einem Anwalt letztlich erwartet.

Es muss Leute geben, die Angeschuldigte (also potentielle Unschuldige und potentielle Verbrecher) verteidigen und die, wenn ein Freispruch nicht möglich ist, wenigstens für ein möglichst niedriges Strafmaß kämpfen. Ohne das funktioniert unser Rechtsstaat nicht.

Auch wenn Sullivan in dieser Sache sicher kein Pflichtverteidiger war, sondern fürstlich für seine Dienste entlohnt worden wäre: es ist verdammt noch mal sein Job. Auch ein Chirurg dürfte Weinstein operieren, ganz egal was der vielleicht angestellt haben mag.

Der emeritierte Harvard-Professor Alan Dershowitz hält den Vorgang für die „schlimmste Verletzung der akademischen Freiheiten während meiner 55-jährigen Verbindung mit Harvard“. Das Geschehen erinnere ihn an die McCarthy-Ära, als Anwälte gefeuert worden seien, weil sie „Kommunisten, Schwule und Bürgerrechts-Demonstranten“ vertreten hätten.

Das Wolfsrudel

2016 wurde in Spanien eine betrunkene 18jährige von fünf 23 bis 29 Jahre alten Männern, die sich selbst im Internet als „La Manada“ (das Rudel) bezeichneten, während eines Stierfestival in Pamplona sexuell bedrängt und missbraucht. Die Tat wurde von den Täter auf Videos dokumentiert, die dann auf WhatsApp mit ihrer Tat und den Aufnahmen geprahlt haben. Die Angeklagten wurden wegen sexuellem Missbrauch zu je 9 Jahren Gefängnis verurteilt (Höchststrafe wäre 10 Jahre gewesen).

Dieses Urteil führte zu landesweiten Protesten und Demonstrationen (allein in Pamplona 30.000 Demonstranten). Mehr als 1.2 Millionen Menschen unterzeichneten eine Protestpetition, in der Spaniens Oberstes Gericht aufgefordert wird, die für das Urteil verantwortlichen Richter des Amtes zu entheben.

Die Richter haben das gemacht, was von ihnen erwartet wird und was sie tun müssen, wenn ein Rechtsstaat funktionieren soll: auf Basis der Gesetze Recht gesprochen. Und sind darüber selbst zu Angeklagten geworden.

Stein des Anstoßes: es gibt in Spanien neben sexuellem Missbrauch auch den Tatbestand der Vergewaltigung. Für Vergewaltigung muss als Tatmerkmal Gewalt oder Einschüchterung vorliegen. Die Staatsanwalt hatte die Tat in der Anklage als Vergewaltigung eingestuft (weil sie von einer Einschüchterung ausging) und 18 Jahre Haft gefordert. Nach intensiver Sichtung aller Beweise ergab die Beweisaufnahme, dass die Frau zwar wehrlos war und der Tat definitiv nicht zugestimmt hat, es wurde aber keine physische Gewalt oder Einschüchterung angewendet. Die für die Verurteilung als Vergewaltigung notwendigen Tatmerkmale lagen also nicht vor.

Die allgemeine Empörung bestärkte die Staatsanwaltschaft darin Berufung einzulegen – und beim geforderten Strafmaß noch einmal nachzulegen. Sie forderte nun sogar 22 Jahre Haft. Und verlor. Das Urteil der ersten Instanz wurde bestätigt. Die nächste (und letzte) Berufungsinstanz ist nun das Oberste Gericht Spaniens. Hier steht ein Urteil noch aus.

Ich persönlich finde die Tat scheußlich und widerwärtig. Ich finde sie aber mit 9 Jahren Haft (bzw. für alle Täter zusammen insgesamt 45 Jahren Haft) auch angemessen, wenn nicht sogar zu hart bestraft.

Eine Freiheitsstrafe ist das härteste, was der Rechtsstaat vorsieht und 9 Jahre Haft sind eine sehr, sehr lange Zeit. Wenn man die Täter irgendwann wieder freilässt, sind sie dann nach 9 Jahren Haft bessere Menschen als sie es nach 5 Jahren Haft gewesen wären? Könnte man irgendetwas jenseits der Befriedigung kurzfristiger Rachegelüste erreichen, indem man sie statt für neun für 18 oder 22 Jahre einsperrt?

Ich meine nein.

Verharmlosung?

Es wird sich sicher jemand finden, der mir vorwirft, dass ich mit damit sexuelle Gewalt verharmlose.

Es ist aber keine Verharmlosung, wenn man sexuelle Belästigung als sexuelle Belästigung, sexuelle Nötigung als sexuelle Nötigung, sexuellen Missbrauch als sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung als Vergewaltigung bezeichnet.

Wer eine differenzierte Betrachtung der Realität als Verharmlosung wertet, ist ideologisch verblendet oder will selbst andere durch Ideologie verblenden, um durch Emotionalisierung und Skandalisierung ein Machtmittel zur Durchsetzung eigener Interessen in die Hand zu bekommen.

Sexuelle Belästigung oder sexuelle Nötigung ist schlimm genug. Man muss sie nicht zu etwas anderem Aufbauschen, um sie zu verurteilen und zu bestrafen. Auch ein Totschlag wird nicht verharmlost, wenn man ihn als Totschlag statt als Mord bezeichnet.

Ich halte es für richtig, dass sexuelle Belästigung (übrigens erst seit dem 10.11.2016) strafbar ist. Einen Strafrahmen von bis zu 2 Jahren, wenn man „andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt“ wie ihn § 184i vorsieht und von drei Monaten bis zu fünf Jahren in besonders schweren Fällen (wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird) finde ich dagegen überzogen. Maximal 6 Monate auf Bewährung reichen für einen „normalen“ Grabscher völlig.

Da ich auch selbst schon einmal begrabscht wurde und mich dadurch (weil es sich beim Grabscher nicht um einen Jungen handelte) auch belästigt fühlte, traue ich mir durchaus ein Urteil in Hinblick auf den Unrechtsgehalt der Tat aus Opfersicht zu.

Wenn dem Ersttäter maximal eine Bewährungsstrafe drohen würde, wäre das vermutlich auch effektiver, da die Hürde, den Täter tatsächlich anzuzeigen, damit geringer wird. Zu hohe Strafen sind kontraproduktiv, weil das Opfer dann auf einmal in die absurde Situation gerät, den Täter vor einer als zu hart empfunden Strafe schützen zu müssen.

Droht für Ersttäter maximal eine Bewährungsstrafe, gibt es diese Hürde nicht und statt der Bestrafung steht der Lernaspekt im Vordergrund – also der Schutz vor künftigen Taten. Stellt sich der Täter dann allerdings als Wiederholungstäter heraus, muss er eben tatsächlich ins Gefängnis und zieht dann hoffentlich wenigstens dort die richtigen Schlüsse in Hinblick auf sein künftiges Verhalten.

Ideologisierung

Wenn man aus einer sexuellen Belästigung sexuelle Gewalt und aus einer Nötigung eine Vergewaltigung macht, so ist das Neusprech: Sprachplanung mit dem Ziel ideologischer Manipulation.

Die dahinter stehende Ideologie ist in ihrem Ursprung feministisch und greift zu diesem Mittel mit der Skrupellosigkeit und Selbstgerechtigkeit eines Freiheitskämpfers, dem für seine gerechten Ziele jedes Mittel recht ist – und dem irgendwann einmal, gegen übermächtige Widerstände ankämpfend, vielleicht auch wirklich jedes Mittel recht sein musste.

Im feministischen Denken ist Sexualität fix mit männlicher Gewalt verbunden.

Herrschaft über Menschen lässt sich nur ausüben mittels Ausführung oder Androhung von Gewalt. So wie heute zum Beispiel in Iran Oppositionelle nur mit Gewehren auf die Knie und Frauen unter den Schleier gezwungen werden können; so wie Schwarze in Amerika über Jahrhunderte nur mit der Peitsche in Ketten gehalten werden konnten; so wurde die Domination von Männern über Frauen über Jahrtausende mittels struktureller und persönlicher Gewalt aufrecht erhalten. Und jede, der es (noch) nicht passiert war, wusste: Es könnte auch mir passieren.

Über Jahrtausende war Sexualität eine Waffe gegen Frauen. Sie wurden im Krieg, in der Öffentlichkeit oder im Ehebett vergewaltigt und geschwängert. Gewalt & Sexualität waren untrennbar verbunden, und zwar für Männer wie Frauen. Für Frauen, weil sie dachten – oder gar noch immer denken –, das gehöre einfach dazu bei „den Männern“; und weil Frauen gefällig sind bzw. sein müssen.

Traditionell ist also schon die Gewalt an sich lustvoll besetzt für Männer – und zwar unabhängig von der Ausführung sexueller Handlungen (wie Penetration). Erst im Zuge der Emanzipation der Geschlechter wurde das infrage gestellt, versuchen Frauen wie Männer, Gewalt & Sexualität zu trennen. Doch nach Jahrtausenden braucht es dazu mehr als ein paar Jahrzehnte. Denn Sexualgewalt ist kein individueller Ausrutscher, sondern strukturell verankert; ein tiefes, dunkles Erbe. So kommt es, dass für so manchen Mann Gewalt gegen Frauen weiterhin lustbesetzt, ja die höchste Lust ist.

Womit wir bei den Harvey Weinsteins, Tariq Ramadans und Dieter Wedels dieser Welt wären. Solchen Männern geht es nicht nur um „Sex“, es geht um Domination, Demütigung und Gewaltausübung. Sie wollen erniedrigen, foltern, ficken. (…)

Aus „Sexualität, Gewalt & Macht“ von Alice Schwarzer

Für mich sind das kranke Gedanken, denen ein völlig falsches Bild von Sexualität zugrunde liegt und in denen die Hälfte der Weltbevölkerung aufs Übelste dämonisiert wird, indem ihr unterstellt wird, es gehe ihr um „Domination, Demütigung, Gewaltausübung, Erniedrigen, Foltern“.

Sexualität als Hilfsmittel zur Machtausübung ist kein männliches Privileg und war es auch nie. Auch wenn Frauen sich während des Großteiles der überlieferten Geschichte ihren Männern aufgrund gesellschaftlicher Konventionen öffentlich unterordnen mussten, gab es zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft Frauen, die in den eigenen vier Wänden und im Bett ebenbürtig oder überlegen waren.

Sexualität war nie das Mittel der Wahl zur Unterdrückung der Frau. Viel eher waren dies Religion, Sitten, Bräuche und Gesetze. Sexualität war dagegen für Frauen Jahrtausende lang ein Mittel, um wirksam Interessen durchsetzen zu können – und ist es auch heute noch.

Frauen wurden nicht durch die Ächtung von Sexualität oder von sexueller Gewalt befreit, sondern durch die Säkularisierung der Gesellschaft, den dadurch zurückweichenden Einfluss von Religion, durch neue Sitten und Bräuche und vor allem durch neue Gesetze.

Natürlich kann man Sexualität auch als Waffe missbrauchen. Das können Männer aber auch Frauen. Alice Schwarzer gebraucht Sexualität seit fast 50 Jahren als Waffe gegen ideologische Gegner. Sie hat in Ihrem Krieg dabei ohne mit der Wimper zu zucken auch etliche unschuldige Passanten über den Haufen geschossen. Neben der psychologischen Kriegsführung mit dem Thema Sex gibt es aber selbstverständlich auch Frauen, die Kinder sexuell missbrauchen. Etwa 20% der Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern werden von Frauen verübt (lt. einer Studie bei Mädchen etwa 6%, bei Jungen etwa 40%).

Das Wesen von Sexualität

All das sagt aber nichts über die innere Wahrheit von Sexualität aus. Auch eine Hand kann man als Faust missbrauchen. Aber der natürliche Zustand der Hand, ist eben nicht die Faust. Genauso wenig ist es der natürliche Zustand der Sexualität, eine Waffe zu sein.

Gewalt und Sexualität können zwar zusammen vorkommen, sie waren aber nie untrennbar miteinander verbunden. Stattdessen ist Sexualität aufs engste mit Liebe verbunden. Nicht zufällig gibt es deutlich mehr Liebesgedichte als Vergewaltigungsgedichte.

Der Mensch ist ein sexuelles Wesen. Sexualität führt über Bindungswillen zu Liebe, Partnerschaft und oft genug auch zu Familie und Kindern. Wenn man einen Krieg gegen die Sexualität als „strukturelle Gewalt“ führt, läuft man Gefahr, Krieg gegen völlig normale Menschen zu führen.

Sex ist emotional und spontan. Es liegt nicht in der Natur der Sache vor jeder Berührung eine Unbedenklichkeitsprüfung durchzuführen oder als Bedingung für einen Kuss, die vorherige Ausstellung eines Passierscheins zu verlangen.

Das Wesen des Menschen

Menschen sind fehlbar. Den tadellosen Menschen, der vor allen (moralischen und sonstigen) Ansprüchen Bestand hat, gibt es nicht.

Weil Menschen neben vielen positiven Eigenschaften nun einmal auch eine Ansammlung von Fehlern und Unzulänglichkeiten sind, ist eine gewisse Fehlertoleranz unerlässlich, wenn der Umgang von Menschen miteinander funktionieren soll.

Schlussfolgerungen

Sex steht heute aus ideologischen Gründen unter Gewaltverdacht. Sexuelle Grenzüberschreitungen gelten als besonders abscheulich.

Eine sexuelle Grenzverletzung ist aber nicht zwingend ein Übergriff. Es kann sich auch schlicht um einen Irrtum handeln. Wenn man jeden Irrtum als Übergriff ahndet, schießt man über das Ziel ebenso hinaus, wie man es tun würde, wenn man jeden Übergriff als Irrtum abtun würde.

Für die Strafwürdigkeit kommt es entscheidend darauf an, wie schwer ein Übergriff ist und ob der Übergriff als Übergriff erkennbar sein konnte bzw. sein musste. Damit ein Strafen mit Augenmaß möglich ist, muss hier hinreichend differenziert werden. Aktuell droht man bei differenzierter Betrachtung allerdings sofort zum asozialen Verharmloser gestempelt zu werden.

Das Strafrecht ist das härteste Mittel des Staates und seinem Wesen nach repressiv, also auf Unterdrückung gerichtet. Es sollte nur soviel staatliche Unterdrückung geben, wie unbedingt benötigt wird.

Empörungs- und Skandalisierungskampagnien, die Kriminalisierung schlechten Benehmens, das Schließen immer weiterer angeblicher „Schutzlücken“ und der ständige Schrei nach höheren Strafen sind letztlich nicht zielführend. Sie werden weder dem Wesen des Menschen noch dem Ziel einer Resozialisierung der Täter gerecht. Zuviel Moral macht blind und ist schädlich.

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