Pädophile als Nothelfer – das Kentler-Experiment

Ein Pädophiler fühlt sich zu Kindern (in meinem Fall zu Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren) hingezogen. Die körperlich-sexuelle Anziehung bedingt auch eine emotionale Anziehung und einen Bindungswunsch.

Natürlich ist Sex ein wichtiges menschliches Grundbedürfnis. Emotionale Bindung und Gemeinschaft sind aber ebenso wichtig. Ein reine Sexbeziehungen genügt Menschen in aller Regel auf Dauer nicht. Wäre es so, dann gäbe es lediglich Sexpaare und keine Liebespaare, Partnerschaften, Lebenspartnerschaften oder Ehen. Offensichtlich gibt es diese aber doch. Menschen wünschen sich nicht nur Sex, sondern auch Nähe und Zweisamkeit.

Sex ist kurzfristige Bedürfniserfüllung. Liebe das Bekenntnis zu einem anderen Menschen. In seinem Ursprung ist dieses Bekenntnis normalerweise sexuell motiviert. Trotzdem geht es in einer Partnerschaft um mehr als um Sex (die „schönste Nebensache der Welt“) und sie kann auch noch andauern, wenn eine Beziehung sexuell inaktiv geworden ist.

Ein riesiger Bedarf

Wir leben in Deutschland zwar im Zeitalter der Helikoptereltern, trotzdem gibt es viele Eltern, die den Anforderungen an Elternschaft nicht oder nicht ohne Hilfe gerecht werden können.

Im Jahr 2017 gab es lt. statistischem Bundesamt 148.143 Fälle von Heimerziehung, 91.420 Fälle von Vollzeitpflege in einer anderen Familie und 23.729 Fälle von Erziehung in einer Tagesgruppe. Insgesamt erhielten 985.628 Kinder und Jugendliche Erziehungshilfe. Die Öffentliche Hand gab 2017 rund 48,5 Milliarden Euro für Kinder- und Jugendhilfe aus.

Neben den Fällen, die es in die Statistik schaffen, weil etwas aufgefallen ist oder sich jemand um Hilfe bemüht hat, gibt es natürlich auch ein riesiges Dunkelfeld von Kindern, die eigentlich Hilfe benötigen, sie aber nicht bekommen. Hinzu kommt, dass Hilfsbemühungen oft ins Leere laufen. Nur weil jemand eine Erziehungsberatung bekommt (459.220 Fälle im Jahr 2017) ist nicht notwendigerweise die Situation verbessert oder gar das Problem gelöst.

Der Kinderpsychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer glaubt, dass es einen ganz wichtigen prognostischen Faktor gibt, der etwas darüber aussagt, ob sich ein Kind gut entwickelt oder schwierig wird:

„One caring person“. Das ist eine Person, idealerweise eine erwachsene, bei der das Kind das Gefühl hat, dieser Mensch interessiert sich für mich, diesem Menschen bin ich wirklich ein Anliegen. Das kann ein Elternteil sein oder ein Großelternteil, das kann jemand in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft sein, eine Tante oder ein Onkel. Es ist dabei überhaupt nicht wichtig, ob das ein Mann oder eine Frau ist.

Interview mit Paulus Hochgatterer im Standard

Natürlich ist es auch wichtig Geld zu investieren. Entscheidend ist aber nicht das monetäre, sondern das emotionale Engagement. Geld hilft, Sinnvolles zu finanzieren, es ist aber kein wirkungsvoller Ersatz für Liebe.

Pädophile sind in diesem Zusammenhang eine ungenutzte Ressource.

Es gibt emotional vernachlässigte Jungen, die lediglich deshalb keine Liebe, Zuwendung, Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten, weil derjenige, der bereit wäre, sie freudig zu geben, moralisch nicht akzeptabel ist.

Einen vom betroffenen Jungen gewünschten, von Liebe motiviertem Kontakt aus moralisierenden „prinzipiellen Gründen“ kategorisch zu unterbinden, entspricht aber eindeutig nicht der Interessenlage des Jungen.

Die Sinnhaftigkeit einer Beziehung hat sich nicht an Moralvorstellungen zu messen, sondern daran, ob die Beziehung dem Jungen etwas bringt.

Zu dieser, aktuell sicher nicht mehrheitsfähigen Schlussfolgerung kam Ende der 1960er Jahre auch der deutsche Psychologe und Pädagoge Helmut Kentler.

Kentlers „Experiment“

Als Leiter der Abteilung Sozialpädagogik des Pädagogischen Zentrums Berlin brachte Kentler Ende der 1960er Jahre in einem Modellversuch mehrere verwahrloste 13- bis 15-jährige Jungen, die er als „sekundärschwachsinnig“ einschätzte, bei ihm bekannten Pädophilen unter, um sie unter deren Obhut zu resozialisieren und zu reifen Erwachsenen heranwachsen zu lassen.

Aufgrund der damit verbundenen Straftatbestände machte er dies erst nach deren Verjährung mehr als ein Jahrzehnt später öffentlich. Kentler versprach sich von dem Experiment, dass die Jugendlichen durch die Männer sozial wieder gefestigt würden. Ihm war dabei klar, dass die Männer auch Sex mit den Minderjährigen haben würden.

Kentler starb im Jahr 2008 und wurde in der taz als „verdienstvoller Streiter für eine erlaubende Sexualmoral“ gewürdigt. Neben anderen positiven Würdigungen (z.B. von der Humanistischen Union oder dem Studienzentrum für Evangelische Jugendarbeit) gab es aber auch Kritik. Ursula Enders, Gründerin des Vereins „Zartbitter“, kritisierte Kentler als einen Mann mit pädosexuellenfreundlichen Positionen. Ähnlich äußerte sich Alice Schwarzer in der Zeitschrift Emma, Stephan Hebel in der Frankfurter Rundschau oder Adam Soboczynski in der ZEIT.

2013 ordnete der Politikwissenschaftler Franz Walter vom Göttinger Institut für Demokratieforschung, der damals die frühere Stellung von Teilen von Grünen und FDP zur Pädophilie untersuchte (Auftragswert der Studie der Grünen: 209.000 Euro), Kentler eine Schlüsselrolle in den Netzwerken pädophiler Aktivisten zu. In diesen Zusammenhang wurde auch der Modellversuch Kentlers zunehmend thematisiert und skandalisiert.

2015 gab die Berliner Senatsverwaltung dem öffentlichem Druck nach und gab bei der Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig (ebenfalls vom Institut für Demokratieforschung in Göttingen) das Forschungsprojekt „Die Unterstützung pädosexueller bzw. päderastischer Interessen durch die Berliner Senatsverwaltung“ über das pädosexuelle „Experiment“ von Kentler in Auftrag. Wie teuer diese Studie war, habe ich leider nicht herausfinden können. Sie scheint mir aber aufwendig, umfassend und gründlich gemacht.

In der Studie wird eine Aussage Kentlers aus dem 1979 erschienenen Sammelband „Sexualität. Materialien zur Sexualforschung“ zitiert:

Nach unseren Vorstellungen kann Heranwachsenden nichts Schädlicheres geschehen, als in eine sexuelle Beziehung zu einem Erwachsenen verwickelt zu werden. Daß trotz zahlreicher Untersuchungen bisher nie die erwarteten schädlichen Folgen bei Kindern oder Jugendlichen festzustellen waren, vermag unsere feste Abwehrhaltung nicht zu erschüttern, und damit wird verhindert, dass womöglich positive Folgen auch nur gedanklich erwogen werden können, ganz zu schweigen davon, dass die längst vorhandenen guten praktischen Erfahrungen wissenschaftlicher Erforschung zugänglich gemacht würden.

Der Beginn des Projekts wurde von Kentler in der Zeitschrift konkret aus dem Jahr 1980 geschildert:

Vor 11 Jahren – ich lebte damals in Berlin in einer Wohngruppe – wurde mir der 13jährige Ulrich gebracht, weil man hoffte, ich würde ihn aufnehmen. Ein Zimmer wäre frei gewesen – aber ich gestehe, dass ich den Jungen nur kurze Zeit ertragen konnte. Er was schwer schwachsinnig. Er redete unkonzentriert, ganz seinen Assoziationen folgend, daher. Er wich einem nicht von der Seite und benahm sich unbeholfen, läppisch. Ulrich war seit seinem vierten Lebensjahr in verschiedenen Heimen gewesen. Vor vier Monaten war er abgehauen, und nin war er ‚auf Trebe‘ (er trieb sich alleine auf sich gestellt herum). Sein Stammplatz war der Bahnhof Zoo. Er „arbeitete“ als Stricher, teils, weil er dadurch Essen, oft auch ein Bett bekam, teils aber auch, weil es ihm Spaß machte, „Männer aufzureißen“ („Da fühl‘ ick mich ma so überlejen“, sagte er). Die Heimerziehung hatte es nicht geschafft, ihm Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Er konnte nicht einmal die Uhr lesen. Dafür, dass er schon so lange unterwegs war, sah er erstaunlich gepflegt aus, und er war gut und sauber angezogen.

Was sollte ich mit dem Jungen machen? Ich kam darauf, ihn zu fragen, wo er am liebsten hingehen würde, ob er jemand kenne, bei dem er gern wohnen würde. Zu meiner Überraschung fing er sofort an, von „Mutter Winter“ zu schwärmen. Herr Winter war Hausmeister in einem großen Wohnblock. Die Jungen vom Bahnhof Zoo kannten ihn alle. Er hatte immer ein bißchen Essen für sie, man konnte bei ihm rumsitzen, während einem seine Maschine die Wäsche wusch, und auch zum Schlafen konnte man zu ihm kommen, sogar dann, wenn man keine Lust hatte, mit ihm zusammen in deinem Bett „zu schlafen“. Ich sagte mir: Wenn die Stricher diesen Mann „Mutter“ nennen, kann er nicht schlecht sein.

Mutter Winter war bereit, Ulrich aufzunehmen. Das Jugendamt richtete bei ihm eine Pflegestelle ein, so dass er für Ulrich Pflegegeld bekommen konnte. Ich besuchte die beiden zweimal die Woche, um die Probleme zu besprechen, die zwischen ihnen entstanden. Ulrich war vier Jahre bei Herrn Winter. Er zog aus, weil er angefangen hatte, sich für Mädchen zu interessieren, und das konnte Herr Winter nicht tolerieren. Aber bis dahin hatte Ulrich Riesen-Fortschritte gemacht. Er konnte – wenn auch nur sehr fehlerhaft – schreiben, er las einfache Texte, beispielsweise Comics, er konnte die Uhr lesen, und er achtete beim Einkaufen darauf, dass das Wechselgeld stimmte.

Seit fünf Jahren arbeitet Ulrich als Hilfsarbeiter in derselben Stelle, und er ist wegen seiner Zuverlässigkeit sehr beliebt. Seit zwei Jahren ist er fest mit einem Mädchen befreundet. Sie „Schwiegereltern“ mögen ihn, und Ulrich ist auch gern bei ihnen. Wenn ich Ulrich heute besuche, sitze ich keinem Schwachsinnigen gegenüber, sondern einem Kerl, der sein Leben selbstbewusst und selbstständig führt. Ich kann diese Geschichte heute berichten, weil die Straftaten, die alle Beteiligten begingen, inzwischen verjährt sind. Ulrich und ich haben Glück gehabt. Ulrichs Vorteil war, dass er gut aussah und dass ihm Sex Spaß machte; so konnte er pädophil eingestellten Männern, die sich um ihn kümmerten, etwas zurückgeben. Wir haben Glück gehabt mit Herrn Winter. Aber sicher haben meine regelmäßigen Besuche positiv gewirkt. Denn Beziehungen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden leiden häufig darunter, dass sie sich tarnen und verbergen müssen. Ich war ein Außenstehender, vertrat kontrollierte Öffentlichkeit und war als eine Instanz akzeptiert, vor der Herr Winter bereit war, sich zu verantworten.

Ehe ich mich an diesen Beitrag machte, habe ich gelesen, was heutzutage von Wissenschaftlern über Pädophilie geschrieben wird. Ich stehe dazu in einem Widerspruch. Ich will die Pädophilie nicht austreiben, sondern ich frage: Welche Schäden fügen wir uns, vor allem den Kindern und Jugendlichen, zu, wenn wie eine Sexualisierung der Beziehungen zwischen den Generationen unter allen Umständen zu verhindern versuchen.

Im Jahr 1981 berichtete Kentler in einem Arbeitskreis der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag wie folgt:

Vor einiger Zeit habe ich von einem ganz anderen Experiment in Berlin berichtet, am dem ich beteiligt zu sein um 1970 anfing. Ich arbeitete damals mit ehemaligen Fürsorgezöglingen, die an sekundärem Schwachsinn litten. Ich habe schon gesagt, worum es sich da handelt: um einen Schwachsinn, der durch Vernachlässigung in Heimen oder bei schlechten Pflegeeltern entstanden ist. – Sie waren zwischen 13 und 15 Jahre alt. Die meisten konnten nicht lesen und nicht schreiben; die meisten konnten noch nicht einmal die Uhr lesen. Teilweise gelang es, diese Jungen bei Päderasten unterzubringen. Das waren meist sehr einfach strukturierte Leute, vor allem Hausmeister, in einem Falle ein Trödler. Diese Leute haben diese schwachsinnigen Jungen nur deswegen ausgehalten, weil sie eben in sie verliebt, verknallt und vernarrt waren. Wir haben diese Beziehungen sehr intensiv betreut und beraten, also in diesen Fällen die Supervision geleistet. In allen Fällen sind diese Jungen heute fähig, ihren Lebensunterhalt selbstständig zu verdienen, und – auch dies wieder nur nebenbei – kein einziger von ihnen ist homosexuell geworden.

Es gibt andere, spätere Schilderungen Kentlers (die man ebenfalls im Abschlussbericht nachlesen kann), die in Hinblick auf die Zeitdauer, Anzahl und Alter der Jungen und auch die Rolle Kentlers im Projekt abweichen. So war in einer Darstellung im Jahr 1988 von Jungen im Alter von 15 bis 17 Jahren die Rede. Teils stellte sich Kentler als Initiator, teils als lediglich Mitwirkender dar.

Kentler war sich der aufgrund des Zeitgeistes gestiegenen Brisanz wohl bewusst und hat unzulässigerweise die „Wahrheit“ über einzelne Details situativ ein wenig angepasst, was die Glaubwürdigkeit im Detail schmälert. Die Schilderungen aus den Jahren 1980 und 1981 sind allerdings die zeitlich nächsten und für Kentler im Rückblick ‚peinlichsten‘, also wohl auch die zuverlässigsten Berichte zu den Vorkommnissen.

Aktenkundig ist zu dem Modellversuch fast nichts (siehe Abschlussbericht S. 75 ff). Man geht von drei teilnehmenden Jungen an dem Projekt aus. Keiner davon war im Zusammenhang mit der Untersuchung des Kentler-Projekts für den Bericht gesprächsbereit.

Es gab lediglich einen Kontakt zu einem Bekannten von Ulrich, mit der Hörensagen-Aussage: „Das Projekt habe ihm dabei geholfen, für sich selbst ein Stück materielle und soziale Sicherheit zu schaffen, die ihn auch ein Stück zufriedener mit sich selbst hat werden lassen und ihm geholfen hat, kriminelles Verhalten und Drogenkonsum abzulegen und weder seine Beziehungen zu zerstören, noch seine Frau zu schlagen. Aber er ist trotzdem ein leidender Mensch geblieben.“ (siehe Seite 78 des Berichts)

Bei den anderen beiden Jungen soll es laut Hörensagen weniger gut ausgegangen sein. Sie sollen aus dem schädlichen Milieu der Stricher, Drogenabhängigen, Kleinkriminellen und Gewalttätigen, dem Umfeld der „Kinder vom Bahnhof Zoo“, „nicht rausgekommen“ sein.

Dr. Teresa Nentwig und Prof. Franz Walter vom Göttinger Institut für Demokratieforschung brachte die Studie einen Folgeauftrag ein. Die Leibniz Universität Hannover an der Kentler lehrte will seine Rolle aufarbeiten lassen. Es gibt dazu eine Förderung vom Land Niedersachen über 190.000 Euro für das Projekt „Die Rolle des Sexualwissenschaftlers im Pädosexualitätsdiskurs – Zum Beispiel: Helmut Kentler“.

Im Jahr 2017 meldeten sich zwei Betroffene des Kentler-Experiments bei der Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Sandra Scheeres (SPD), und zeigten sich enttäuscht, wie wenig ihnen geholfen wurde. Den Opfern soll nun mit Therapien und Sachleistungen bis zu 10.000 Euro geholfen werden und sie sollen bei der weiteren Aufklärung mitwirken können. Entsprechend gibt es auch in Berlin ein Folgeprojekt über 84.000 Euro, das vom Berliner Senat an die Universität Hildesheim vergeben wurde.

Meine Bewertung zum „Experiment“

Die Erfolge, von denen Kentler berichtet, sind für mich glaubwürdig. Ich halte es aber für denkbar, dass sie von ihm etwas überzeichnet wurden. Zumindest im Fall von Ulrich scheint es einen dauerhaften Nutzen gegeben zu haben.

Was die anderen beiden Fälle angeht, sind die Folgen unklar. Wenn sie aus dem Milieu nicht herausgekommen sind, bedeutet das nicht, dass sie von der Unterstützung, die sie bekommen haben, nicht profitiert haben, oder dass es Ihnen mit einem anderen Hilfsangebot besser ergangen wäre. Das gilt allerdings umgekehrt natürlich auch für den Erfolgsfall Ulrich. Möglicherweise hätte dieser von einem anderen Unterstützungsangebot ebenso oder sogar noch mehr profitiert.

Die Pädos, bei denen die Jungen untergebracht waren, waren nach Aussage Kentlers „sehr einfach strukturierte Leute“ (zwei Hausmeister, ein Trödler). Wie hätte die Erfolgsbilanz ausgesehen, wenn es sich stattdessen um gut strukturierte Leute gehandelt hätte?

Der „Modellversuch“ erlaubt keine validen systematischen Aussagen über die Wirksamkeit der Maßnahme. Wir haben keinen Einblick in eine Parallelwelt, ohne die Maßnahme oder mit anderen alternativ denkbaren Maßnahmen. Von einer Gruppe mit nur drei Teilnehmern kann man auch ohnehin keine statistischen Aussagen ableiten. Wie viele Stricher schaffen es überhaupt je, dem Milieu wieder zu entkommen? Jeder dritte? Einer von zehn? Einer von Hundert? Selbst wenn es nur einer von hundert wäre, kann es sein, dass Ulrich zufällig dieser eine von Hundert gewesen wäre, der es ohnehin geschafft hätte.

Letzlich taugt das Experiment nur als Einzelfallbericht, der nichts beweist, der aber plausibel macht, dass eine sexuelle Beziehung mit einem Erwachsenen auch positive Folgen für ein Kind haben kann.

Im Gegensatz zur Presseberichterstattung finde die Vorgehensweise von Kentler übrigens nicht moralisch fragwürdig.

Ein wichtiger Punkt ist, dass Ulrich den Mann, bei dem er eingezogen ist, bereits kannte und Zutrauen zu ihm hatte. Ulrich hat sich (ebenso wie „Mutter Winter“) freiwillig auf die Lösung eingelassen und ist freiwillig vier Jahre lang dort geblieben (bis Herr Winter ein Problem damit bekam, dass Ulrich sich anderweitig orientierte). Ulrich wusste, dass Herr Winter auf Jungs steht und hat auch schon vor diesem Arrangement Sex mit ihm gehabt.

Ulrich war damals ein Stricher und ein einzelner Sexpartner, der einem sympathisch ist („.Zu meiner Überraschung fing er sofort an, von „Mutter Winter“ zu schwärmen.“), ist auch nachvollziehbar besser, als ständig wechselnde Sexualpartner, bei denen es nur ums Geld geht, bei denen man nicht weiß, was einen erwartet und bei denen bestimmt auch mal unangenehme Typen dabei waren.

Ein Straßenjunge ist (anders als ein normales Kind) gezwungen auf eigenen Beinen zu stehen. Damit sind viele Entbehrungen aber auch viele Freiheiten verbunden. Weil Straßenkinder die Freiheiten oft nicht mehr aufgeben wollen, ist es schwierig, sie wieder von der Straße zu bekommen, wenn sie sich einmal an dieses Leben gewöhnt haben.

Anders als ein Kind, dass in schon immer in einer Familie lebte und nichts anderes kennt, weiß ein Straßenkind, dass es sich jederzeit „absetzen“ kann und hat das aus Erfahrung gewonnene Vertrauen darauf, dann schon irgendwie klarzukommen und nicht zu verhungern oder zu erfrieren.

Ulrich war Herrn Winter also nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er hätte sich jederzeit absetzen können. Er entschied sich stattdessen dafür, bei ihm zu bleiben. Ulrich war also ein freiwilliger Teilnehmer und zwar nicht nur zu Beginn, sondern während der gesamten Dauer der Beziehung.

Schlussendlich gab es auch eine laufende Betreuung. Kentler hat die beiden zweimal die Woche besucht, um sicherzustellen, dass die Beziehung funktioniert und dem Jungen gut tut. Auch in diesem Zusammenhang gab es genügend Gelegenheiten für Ulrich, die Beziehung zu beenden und Hr. Kentler um eine andere Unterbringung zu bitten.

Meine Bewertung zur Aufarbeitung

Die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs scheint mir etwas von einer selbst tragenden Struktur zu haben.

Eine Studie über 209.000 Euro zur Aufarbeitung des Verhältnisses der Grünen zur Pädophilie in den 1980er Jahren führt zu einer mutmaßlich ähnlich teuren Studie des gleichen Instituts zum Modellversuch Kentlers in Berlin. Das Institut erhält danach einen Folgeauftrag zur Aufarbeitung der Rolle Kentler im Pädosexualitätsdiskurs über 190.000 Euro. Auch die Rolle Kentlers in Berlin wird (diesmal von einem anderen Institut) für 84.000 Euro weiter erforscht. Das ist viel Geld. Ob das in einem angemessenen Verhältnis zum Ertrag steht, scheint mir fragwürdig.

Dass es bei den Studien um viel Geld geht, scheint auch zu den „Opfern“ vorgedrungen zu sein. Sie waren zunächst nicht gesprächsbereit. Als deutlich wurde, dass es vielleicht etwas zu holen gibt, hat man sich dann über die mangelnde Unterstützung beklagt, mit dem Erfolg, dass ihnen nun mit bis zu 10.000 Euro geholfen werden soll. Sie sollen außerdem bei der weiteren Aufklärung mitwirken können. Den wissenschaftlichen Wert der weiteren Aufklärung kompromittiert das allerdings, denn zu erwarten haben die Betroffenen nur etwas, wenn sie sich als Opfer präsentieren.

Unabhängig von diesen Bedenken, scheint mir die Qualität der Kentler-Studie aber durchaus zu stimmen. Man kann darin nicht nur Inhalte finden, die zur moralischen Entrüstung taugen, sondern auch solche, die den Gedankengang und die Schlussfolgerungen Kentlers stützen und nachvollziehbar machen.

3 Kommentare zu „Pädophile als Nothelfer – das Kentler-Experiment

Hinterlasse einen Kommentar