„Lorenz wehrt sich“ – Kindersachbuch über Kindesmißbrauch

Das Kindersachbuch „Lorenz wehrt sich“ ist lt. Angaben auf der Buchrückseite für Kinder ab etwa 10 Jahre in Begleitung erwachsener Vertrauenspersonen geeignet. Es „ermöglicht Kindern ab etwa 10 Jahren durch klare Worte und deutliche Bilder, über sexuellen Missbrauch zu sprechen“.

Ich finde es sinnvoll, dass es ein solches Buch gibt. Leider ist aber nicht alles sinnvoll, was in dem Buch enthalten ist.

Ausgangspunkt ist die Missbrauchserfahrung, die dem Protagonisten, dem 11-jährigen Lorenz zustößt. Diese wird als Auszug aus dem ersten Kapitel in der Produktbeschreibung auf amazon.de geschildert. Noch etwas mehr Text und weitere Seiten des Buches kann man als Leseprobe auf der Seite des Verlags einsehen. Hier der Textauszug, den man auch auf amazon findet:

Das schlechte Geheimnis * Eine Geschichte zum (Vor-)Lesen *

Lorenz ist schon 11 und ein fröhlicher Junge. Aber seit einiger Zeit fühlt er sich scheußlich, hohl und irgendwie abgenutzt. Es ist, als ob etwas in ihn hineingekrochen wäre und den Lorenz, den er bislang kannte, verdrängen und kleiner machen würde. Dieses Etwas verleidet ihm sogar die Freude an den schönen Dingen und treibt ihn nach der Schule in sein Zimmer. Dort liegt er dann meist bis zum Abendessen schlaff wie ein Kartoffelsack im Bett herum und grübelt. Er spielt das Erlebte immer wieder durch und fragt sich hoffnungsvoll, ob sich – wenn er sich ganz oft in die Arme zwickt – nicht doch alles als Traum erweist.

Wenn Lorenz am Tag vor lauter Nachdenken die Augen zufallen, dann quälen ihn im Dunkeln erneut die gleichen Bilder. Das geht so lange, bis ihm schwindlig wird. Ganz egal, ob er fest seinen Kopf schüttelt, seine Haare ziemlich grob bürstet oder mit Eiswürfeln seine Stirn kühlt: Die Gedanken daran verblassen nicht. Lorenz ist sich nicht sicher, was er nun tun soll.

Lorenz erinnert sich: Im Fußball-Trainingslager wollte er sich mit seiner Mannschaft auf die Bezirksmeisterschaft der U13 vorbereiten. Wie immer ging er wie alle anderen nach dem Sport duschen. Später wäre er zum Tischtennis verabredet gewesen. Doch daraus ist nichts geworden, weil der sympathische Trainer, mit dem Lorenz seit Jahren arbeitet, alles kaputt gemacht hat.

Lorenz hat sich in der Dusche ein wenig mehr Zeit gelassen als die anderen. Ihn alleine in der Dusche zu finden, darauf hat es der Trainer vielleicht sogar angelegt. Denn er steht plötzlich nackt vor Lorenz.

Zuerst denkt Lorenz, der Trainer habe sich verlaufen. Doch als dieser grinsend näher kommt und ihn auffordert, ihm den Rücken zu waschen, verfliegen die Zweifel.

Ein eigenartiges Gefühl, vermischt mit Angst und Unwillen, keimt in Lorenz auf. Er versucht, mit zu Boden gesenktem Blick die Sache abzuwenden, indem er flüstert: „Nein, das mag ich nicht.“ Doch der Trainer greift Lorenz‘ Arm und zieht ihn zu sich heran. Dann sagt er: „Mach schon, du willst doch beim Turnier nicht als Stürmer auf der Bank sitzen.“

Das will Lorenz auf keinen Fall, weshalb er rasch nach dem Schwamm greift und tut, wie ihm befohlen wird. Anschließend muss Lorenz den Trainer am ganzen Körper abtrocknen.

Als er über dessen Penis rubbelt, atmet der Trainer sehr schnell und keucht, als ob er einen steilen Berg erklimmen würde. Wenig später atmet er wieder normal und wäscht eine helle, klebrige Flüssigkeit von seinem Penis und vom Bauch.

Danach fasst der Trainer Lorenz im Gesicht an. Er blickt ihm fest in die Augen und sagt: „Das muss unser Geheimnis bleiben. Du willst doch nicht aus der Mannschaft fliegen, oder?“

Als der Trainer pfeifend die Gemeinschaftsdusche verlässt, hätte Lorenz sich vor Ekel beinahe angekotzt.


Geschichte eines Missbrauchs

Das was geschildert wird, ist eindeutig Missbrauch, denn Missbrauch bedeutet, dass ein Mensch einen anderen Menschen schlecht behandelt. Dies geschieht hier in mehrfacher Hinsicht. Erstens wird Lorenz überrumpelt. Zweitens sagt er „Nein, das mag ich nicht.“ – trotzdem setzt sich der Trainer über die klare und unmissverständliche Willensäußerung hinweg. Drittens erzwingt der Trainer die gewünschte Handlung durch eine Drohung (dass Lorenz sonst beim Turnier auf der Bank sitzen wird). Viertens versucht er durch eine nochmal deutlich schärfere Drohung (die Androhung aus der Mannschaft zu fliegen) Lorenz Schweigen zu erzwingen.

Die Vorgehensweise des Trainers hat etwas von sexueller Belästigung, Nötigung und Erpressung.

§ 184i Sexuelle Belästigung

(1) Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn nicht die Tat in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.

§ 253 Erpressung

(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

§ 240 Nötigung

(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Es gibt aber einen weiteren, noch spezifischeren strafrechtlichen Tatbestand, der Vorrang haben dürfte. Die für den Fall Lorenz besonders relvanten Abschnitte habe ich durch Fettstellung hervorgehoben.

§ 177 Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung

(1) Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wenn
1. der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern,
2. der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert,
3. der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt,
4. der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht, oder
5. der Täter die Person zur Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel genötigt hat.

(3) Der Versuch ist strafbar.

(4) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn die Unfähigkeit, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf einer Krankheit oder Behinderung des Opfers beruht.

(5) Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn der Täter
1. gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet,
2. dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht oder
3. eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist.

(6) In besonders schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn
1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), oder
2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.

(7) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter
1. eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,
2. sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden, oder
3. das Opfer in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.

(8) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter
1. bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet oder
2. das Opfer
a) bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder
b) durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.

(9) In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist auf Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze 4 und 5 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen der Absätze 7 und 8 ist auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.


Lorenz hat den Kontakt erkennbar abgeleht. („Nein, das mag ich nicht.“) Der Trainer hat mit der Situation unter des Dusche ein Überraschungsmoment ausgenutzt. Die Drohung nicht aufgestellt zu werden, besonders aber der angedrohte Rauswurf aus der Fußballmannschaft war nach den Maßstäben des Opfer, auf die es hier meiner Meinung nach ankommt, ein „empfindliches Übel“. Hinzu kommt, dass Lorenz unter der Dusche bereits nackt war. Nackt fühlt man sich angreifbarer und schutzlos. Wenn man wegen dem Element der Schutzlosigkeit einen „minder schweren Fall des Absatzes 5“ annimmt, läge die Strafandrohung bei sechs Monaten bis 10 Jahren.

Was Lorenz widerfährt wäre also auch dann strafbar, wenn es den Paragraphen 176 (sexueller Missbrauch von Kindern) nicht gäbe. Tatsächlich sieht dieser nicht einmal schärfere Strafen vor:

§ 176 Sexueller Missbrauch von Kindern

(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.

§ 176 wird also gar nicht benötigt, um den sexuellen Mißbrauch von Kindern bestrafen. Sexueller Mißbrauch wäre sowieso strafbar. Die Funktion des § 176 ist, auch Handlungen bestrafen zu können, die einvernehmlich, ohne Überrumpelung, ohne Belästigung, Erpressung oder Drohung zustande kommen und die von den betroffenen Kindern auch nicht als Missbrauch empfunden werden.

Eigentlicher Zweck der Norm ist dann aber nicht der Schutz von Kindern oder der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, sondern die Sexualmoral, im Sinne einer Durchsetzung der gesellschaftliche Mißbilligung einvernehmlicher Sexualkontakte zwischen Erwachsenen und Kindern.

Mängel der Lorenz-Geschichte

Ich halte den Text zur Lorenz-Geschichte nicht für gelungen oder geeignet, um sexuellen Missbrauch von Kindern entgegenzutreten.

Es gibt mit Sicherheit genug Kinder, die ein „Nein, das mag ich nicht.“ nicht herausbringen. Und auch dann wäre der geschilderte Vorgang mit Überrumpelung, Nötigung und Erpressung immer noch Missbrauch. Es könnte also bei einem Kind der Eindruck entstehen, dass es schuld daran ist, nicht „Nein“ gesagt zu haben.

Dieser Kritikpunkt wird etwas entkräftet, wenn man bedenkt, dass das Buch in Begleitung erwachsener Vertrauenspersonen gelesen werden soll.

Und dann wird es auf einmal eklig

Problematischer ist meines Erachtens, dass der Autor entscheidet, was das Kind zu Empfinden hat: „Ein eigenartiges Gefühl, vermischt mit Angst und Unwillen, keimt in Lorenz auf. (…) Als der Trainer pfeifend die Gemeinschaftsdusche verlässt, hätte Lorenz sich vor Ekel beinahe angekotzt.“

Für mich wäre nachvollziehbar, wenn sich Lorenz am Ende der Geschichte hilflos, schwach oder schlecht fühlt, verwirrt ist, sich ärgert oder wütend ist, dass der Trainer ihm gedroht und zu etwas gezwungen hat, was er nicht wollte.

Ekel scheint mir bei dem geschilderten Vorfall eine eher unwahrscheinliche (aber zugegeben zumindest mögliche) Reaktion. Ekelgefühle wären für mich nachvollziehbar, wenn Lorenz in der Geschichte etwa zu Oralverkehr gezwungen worden wäre, was ja aber nicht der Fall war.

Der heutige „Artikel des Tages“ auf der deutschsprachigen Wikipedia ist „Ekel“. Danach ist Ekel eine erlernte Reaktion. Auf Gerüche, die Erwachsene als ekelerregend bezeichnen – wie den von Kot oder Schweiß – reagieren Kleinkinder bis etwa drei Jahren z.B. nicht. Da die Ekelreaktion kein angeborener Instinkt sei, werde sie im Laufe der Sozialisation nach dem Vorbild von anderen, vor allem den Eltern, erlernt und sei kulturell beeinflusst. Das Prinzip laute: „Ekele dich vor den Dingen, die in der Gesellschaft, in der du lebst, als ekelhaft gelten!“

Ein Kind, dass sich mit dem Thema Sex bzw. sexuellen Handlungen noch nicht oder kaum auseinandergesetzt hat, weil es sich entwicklungsbedingt für das Thema bisher noch nicht sonderlich interessiert hat, hat normalerweise schlicht keinen entsprechenden Hintergrund, um das was in der Lorenz-Geschichte erzählt wird, als eklig einzustufen.

Bei einem Erwachsenen wie der Autorin sieht das anders aus. Sie hat gelernt, dass der sexueller Kontakt eines Kindes mit einem Erwachsenen in der Gesellschaft als ekelhaft gilt, also ekelhaft ist – und überträgt die eigenen Gefühlsregungen unzulässigerweise auf die Gefühlslage des Kindes.

Im Wikipedia-Artikel ist übrigens auch angemerkt, dass neuere Untersuchungen zur Neurobiologie darauf hinweisen, dass auch Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Unfairness Ekelreaktionen hervorrufen – was die geschilderte Reaktion von Lorenz möglich scheinen lässt. Allerdings wäre dies dann wohl kein Ekel über die sexuelle Handlung an sich, sondern über die ungerechte und unfaire Vorgehensweise des Trainers.

Zum Ekel hinmanipliert

Die Konsequenz aus der Geschichte scheint mir zu sein, dass ein Kind, dass das Buch liest oder vorgelesen bekommt, zur Schlussfolgerung gelangt, bzw. geführt wird, dass es sich hätte ekeln müssen und das etwas mit ihm nicht stimmt, falls es sich nicht geekelt hat.

Es wird zwar eine Geschichte erzählt, die eindeutig einen Missbrauch schildert, aber die Deutungshoheit über seine Gefühle sollte man dem Kind trotzdem lassen – um ihm dann passgenau zu seiner tatsächlichen Gefühlslage helfen zu können.

Dies gilt umso mehr, als man davon ausgehen muss, dass auch Kinder mit dem Buch konfrontiert werden, die eben nicht erpresst oder genötigt wurden und die sich auch nicht geekelt haben. Jemand, der sich nicht als Opfer fühlt, wird dann künstlich und ohne Rücksicht auf sein Wohlergehen zum Opfer gemacht und nachträglich traumatisiert.

Deswegen müsste man einen Täter wie den Trainer von Lorenz natürlich nicht straffrei davon kommen lassen. Die Bestrafungsaktion darf aber nicht zu Lasten des vom Unrecht Betroffenen gehen. Der Punkt dabei ist: das Opfer einer Ungerechtigkeit, bei der der Täter am Ende zur Rechenschaft gezogen wird, kann sich viel leichter von der Tat erholen, als das Opfer eines „Seelenmordes“, der dogmatisch als eine unheilbare, lebenslange Verletzung eingestuft wird.

Drückt man dem Kind seine Interpretation des Geschehens (z.B. als eklig) auf, dann nimmt man damit auch die Gefahr in Kauf, dass fälschlich Sex an sich als ekelhaft interpretiert wird, womit zum Schaden des Kindes eine positive Einstellung zu Sexualität für die Zukunft untergraben wird.

Missbrauch ist aber nicht primär schlimm, weil er sexuelle Kontakte beinhaltet (dann wären z.B. auch entwicklungsbedingt durchaus normale, einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen etwa gleichaltrigen Kindern grundsätzlich schlimm und schädlich), sondern weil das beteiligte Kind im Kontext des sexuellen Kontakts schlecht behandelt wird, also z.B. wie im Fall Lorenz bedrängt, bedroht oder erpresst wird.

In der Leseprobe des Verlags finden sich im weiteren Verlauf eine Reihe Seiten, die gut und kindgerecht über verschiedene Aspekte eines Strafverfahrens informieren. Die Belehrung des Kindes darüber, was es zu fühlen hat, setzt sich aber teilweise auch fort, etwa auf Seite 51 des Buches (Seite 8 der Leseprobe). Dort soll das Kind bei 9 cartoonartig dargestellten Szenen bewerten, welche Berührungen unangenehm sind. Daran ist nichts auszusetzen. Wohl aber kann man an der konkreten Aufgabenstellung: „Berührungen fühlen sich entweder angenehm oder unangenehm an. Entscheide selbst, welche Berührungen von dir als unangenehm erlebt werden und umkreise sie. Kreuze dann jene drei Berührungen an, die dich besonders ekeln.“

Es gibt überhaupt nur 4 Zeichnungen, die potentiell unangenehm sein können:
– ein Junge, der von einer Frau auf die Backe geküsst wird, wobei sie seinen Kopf festhält, so dass der Junge sich nicht entziehen kann
– ein Mädchen, dem ein älterer Mann an die Brust fasst (beide bekleidet)
– ein Junge, dem ein älterer Mann an den Po fasst (vermutlich im Freibad)
– ein Junge, dem ein Mann während der Hausaufgaben am Ohr zieht

Die anderen Bilder stellen erkennbar positive Interaktionen dar – was auch durch die dargestellte Mimik des Kindes jeweils deutlich wird (hierzu zähle ich auch das Bild eines traurigen Jungen, der von einer Frau getröstet wird).

Warum sprechen die Autoren auf einmal wieder von „ekeln“ statt unangenehm?

Und warum sollen es drei Berühungen sein? Fällt das Kind durch, wenn es nur eine oder zwei Berührungen als eklig ankreuzt?

Opferhilfe ohne geheime Agenda

Ich verurteile den Missbrauch von Menschen und besonders den Missbrauch von Kindern.

Die Auseinandersetzung mit einem vermuteten Missbrauch darf aber nicht dazu führen, dass einem Kind eingeredet wird, was es nach Meinung der Erwachsenen gefälligst zu fühlen hat.

Aber auch darum geht es dem Buch. Dies wird auch deutlich, wenn man den (in der Leseprobe des Verlags enthaltenen) Text auf die Buchrückseite liest – den Knackpunkt habe ich durch Fettstellung hervorgehoben:

Sexuelle Gewalt passiert nie zufällig, sondern sie macht Minderjährige zielgerichtet zu einem Spielzeug, mit dem ausschließlich inadäquate sexuelle Bedürfnisse gewaltausübender Personen befriedigt werden. Die Opfer – bevorzugt besonders autoritätshörige, unaufgeklärte oder schüchterne Kinder – werden durch massive Drohungen zum Schweigen gebracht. Sie reden erst dann über die sexuellen Übergriffe, wenn sie die sexuelle Gewalt als solche erkennen oder wenn die psychische Belastung unerträglich wird.

Nach dieser Logik ist jeder sexuelle Kontakt ein Übergriff und sexuelle Gewalt. Kinder, denen bei einem sexuellen Kontakt keine Gewalt widerfährt oder die nicht durch massive Drohungen zum Schweigen gebracht werden, kommen in dieser gedachten Wirklichkeit nicht vor.

Wenn dass Kind, den Kontakt nicht als Gewalt erkennt, muss ihm diese Erkenntnis (natürlich nur zu seinem eigenen Besten) eingeredet bzw. aufgezwungen werden. Während man einem Opfer glauben soll, wird einem Kind, das sich nicht für ein Opfer hält, nicht geglaubt. Es wird zunächst zum Opfer-Dasein bekehrt. Erst danach ist es dann würdig, anerkannt und respektiert zu werden.

Das kann es nicht sein.

Wenn man jemandem erst einreden muss, dass er ein Opfer war, dann war er ursprünglich kein Opfer und wurde erst nachträglich in die Opferrolle gezwungen. Auf diese Weise werden Kinder, die nicht traumatisiert sind, künstlich nachtraumatisiert.

Wer sich tatsächlich um das Wohl von Kindern sorgt, sollte zuallererst die Gefühle von Kindern ernst nehmen.

2 Kommentare zu „„Lorenz wehrt sich“ – Kindersachbuch über Kindesmißbrauch

  1. Schneeschnuppe, er hat nicht eingewilligt und dann muss der ältere dies akzeptieren.

    Man kann doch nicht aus nächstenliebe einen 11 jährigen so behandeln wenn er doch „nein“ sagt

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    1. „er hat nicht eingewilligt und dann muss der ältere dies akzeptieren“

      Natürlich muss der Ältere das akzeptieren.

      „Man kann doch nicht aus nächstenliebe einen 11 jährigen so behandeln wenn er doch „nein“ sagt“

      Ich habe den (erfundenen) Fall von Lorenz klar als Missbrauch eingestuft. Er wäre, so wie er geschildert ist, auch dann Missbrauch, wenn Lorenz nicht „nein“ gesagt hätte. Ich habe das im Artikel wie folgt erläutert:

      ZITAT Anfang

      Lorenz hat den Kontakt erkennbar abgelehnt. („Nein, das mag ich nicht.“) Der Trainer hat mit der Situation unter des Dusche ein Überraschungsmoment ausgenutzt. Die Drohung nicht aufgestellt zu werden, besonders aber der angedrohte Rauswurf aus der Fußballmannschaft war nach den Maßstäben des Opfer, auf die es hier meiner Meinung nach ankommt, ein „empfindliches Übel“. Hinzu kommt, dass Lorenz unter der Dusche bereits nackt war. Nackt fühlt man sich angreifbarer und schutzlos. Wenn man wegen dem Element der Schutzlosigkeit einen „minder schweren Fall des Absatzes 5“ annimmt, läge die Strafandrohung bei sechs Monaten bis 10 Jahren.

      Was Lorenz widerfährt wäre also auch dann strafbar, wenn es den Paragraphen 176 (sexueller Missbrauch von Kindern) nicht gäbe. (…)

      Es gibt mit Sicherheit genug Kinder, die ein „Nein, das mag ich nicht.“ nicht herausbringen. Und auch dann wäre der geschilderte Vorgang mit Überrumpelung, Nötigung und Erpressung immer noch Missbrauch. Es könnte also bei einem Kind der Eindruck entstehen, dass es schuld daran ist, nicht „Nein“ gesagt zu haben.

      ZITAT Ende

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